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Foto: Paul Bergen/Redferns/Getty Images

Das Garbage-Debüt wird 30: Shirley Mansons Urschrei

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1995 haben alle plötzlich nur noch Augen für eine Band: Mit ihrem selbstbetitelten Debüt schwingen sich Garbage aus dem Nichts zu Amerikas neuen Alt-Rock-Darlings auf. Auch 30 Jahre später ist Garbage ein furioses Feuerwerk zwischen Zorn und Liebe.

Zufall, Fügung, Schicksal, Kismet … im Grunde ist ganz egal, wie man es nennt. Manchmal kommen einfach Menschen in einer Konstellation zusammen, die magisch ist. Die die Welt aus den Angeln heben kann. Passiert nicht häufig. Aber wenn, dann so richtig.

Nirvana, Sonic Youth, Smashing Pumpkins

Nehmen wir nur mal den Fall von Butch Vig. Dieser Kerl hätte sich 1993 eigentlich zurücklehnen und die Musik für immer an den Nagel hängen können. In den Jahren zuvor hat er mit Nirvanas Nevermind, Sonic Youths Dirty und Siamese Dream von den Smashing Pumpkins drei der wichtigsten und legendärsten Platten der Neunziger produziert. Was da noch kommen soll? Fragt sich Butch Vig offenbar nicht lang, schnappt sich seine engen und ebenso experimentierfreudigen Musikerfreunde Duke Erikson und Steve Marker und gründet in seinen Smart Studios tief in Wisconsin mit Garbage kurzerhand eine neue Band.

Eine neue Chrissie Hynde

Es ist nur: Irgendwas fehlt dem Trio. Vig steht anfangs noch am Mikro, doch er und seine Kumpels merken bald, dass ihrer Band eine starke feminine Präsenz fehlt. Sie wollen eine Frontsängerin. Aber nicht irgendeine. Sie wollen die Frontsängerin schlechthin, eine vom Kaliber Chrissie Hynde oder Patti Smith. Die finden sie nicht in Wisconsin und auch nicht im Rest der USA. Sondern ausgerechnet im regnerischen und windigen Schottland. Dort gibt es eine Frau, die nur dann glücklich scheint, wenn es regnet: Shirley Manson.

Die befindet sich damals ebenfalls mitten in einer neuen Karrierephase mit ihrer neuen Band Angelfish, die aus ihrer früheren Formation Goodbye Mr. Mackenzie hervorgegangen ist. Anfang 1994 beginnt sich gerade Begeisterung für die Gruppe zu entfachen, als das Video zu Suffocate Me urplötzlich von MTV rauf und runter gespielt wird. So bekommt es eines Abends auch Steve Marker zu sehen. Er sieht und hört Shirley Manson – und weiß sofort, dass sie die neue Sängerin von Garbage werden muss.

Am 8. April 1994 treffen sich Manson Erikson, Marker und Vig zum ersten Mal in London. Am selben Tag erfährt Vig vom Selbstmord Kurt Cobains. Schicksal? So oder so bleiben sie in Kontakt, bis Manson in den USA tourt und dann zu einer Audition in Vigs Studio nach Madison kommt. Zwar verpatzt Shirley Manson dieses erste Vorsingen und bezeichnet es später als „Katastrophe“, aber sie und die Band klicken sofort und haben musikalisch identische Vorstellungen.

In einer Hütte tief im Wald

Shirley Manson setzt alles auf eine Karte, verlässt ihre schottische Heimat und zieht nach Wisconsin, um mit Garbage an Songs zu arbeiten. Es ist das erste Mal, dass sie überhaupt am Songwriting beteiligt ist. Die Texte entstehen in einer Hütte in den Wäldern Wisconsins, die Musik in Butch Vigs Studio. Was Garbage versuchen, ist ein Pop-Album zu machen, das nicht wie ein Pop-Album klingt. Sie wollen Schroffheit und Experimente, Furor und Lärm, aber das alles so hinterhältig eingängig, dass man gar nicht merkt, was diese Band mit einem macht.

„Am Ende hatten wir 48 Spuren mit Samples und Loops, allerlei seltsamen bearbeiteten Soundeffekten und merkwürdigen Gitarren-Overdubs, und dann haben wir während des Mixing-Prozesses so lange hinzugefügt und weggenommen, bis wir einen Punkt erreicht hatten, an dem der Song noch immer gut rüberkam“, so sagte Butch Vig über den Aufnahmeprozess eines Albums, von dem niemand so recht wusste, was daraus werden würde. Eine „dysfunktionale Demokratie“ sei der Prozess geworden, so Vig, eine Zeit, in der die meisten Songs komplett zerlegt und zu etwas ganz Neuem zusammengesetzt wurden.

Besessen von Chris Cornell

Was entsteht, ist Garbage, ein Album wie ein Leuchtfeuer. Noise Pop, könnte man fast sagen, trügerisch eingängige Songs, oberflächlich simpel und leicht konsumierbar, aber voller Untiefen, voller Ecken und scharfer Kanten. Musikalisch ist das Debüt eine Hydra, ein vielarmiges Alternative-Rock-Wunderwesen. Inhaltlich beschriebt es die Band als „gemeinsame Psychotherapie-Sitzung, in der persönliche Dämonen unterschiedlicher Größe und Bedeutung ausgetrieben, verunglimpft, gerächt und zur Ruhe gebracht werden.“

Der Song Fix Me Now heißt ursprünglich Chris Cornell, weil Shirley Manson damals regelrecht besessen vom Soundgarden-Sänger ist. Überhaupt nimmt Shirley Manson von Anfang an das Zepter in die Hand und singt über das, was ihr wichtig ist. Ideen ihrer Bandkollegen nimmt sie gern an, hat aber das letzte Wort.

Vier Millionen verkaufte Exemplare

In Sachen Vermarktung geht Butch Vig einen ungewöhnlichen Weg: Das Album wird damals ohne Bio bemustert, niemand weiß, dass er ein Teil der Band ist. Er will keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, nur weil er Nirvana produziert hat. Das Album wird dennoch ein gewaltiger Erfolg – und das eben aufgrund der Musik und nicht aufgrund seines Namens. Die Presse liebt es, MTV liebt Shirley Manson und im Nu sind vier Millionen Exemplare von Garbage verkauft. Sie touren mit den Ssmashing Pumpkins, die Single Stupid Girl wird für einen Grammy nominiert. So kann man anfangen.

Garbage schießen aus dem Nichts nach ganz oben. Und läuten mit ihrem zugleich schroffen und sanften Sound eine neue Ära ein. Das liegt natürlich zu einem sehr großen Teil an Shirley Manson, der neuen Galionsfigur der Alternative-Neunziger. An ihrer Stimme, aber auch an ihrem selbstbestimmten Auftreten zu einer Zeit, in der man Frauen in der Rockmusik noch mehr als heute auf Oberflächlichkeiten reduziert. Damit wird sie zum Role Model für unzählige Künstlerinnen, die nach ihr kommen – von Amy Lee über Florence Welch bis hin zu Billie Eilish und Lana Del Rey.

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