Featured Image
Foto: Dave Tonge/Getty Images

Die Mystifizierung der Musik: „Treasure“ von Cocteau Twins wird 40

Ohne Cocteau Twins würden Genres wie Dream Pop oder Shoegaze wahrscheinlich nicht existieren. Mit dem Album Treasure von 1984 gab das Trio der Musik die wichtigsten Zutaten dafür: Mystik, Atmosphäre und Evokation.

Der Wendepunkt

„Diese Band ist die Stimme Gottes“, das ist wohl eines der berüchtigtsten Zitate rund um Cocteau Twins. Es stammt aus einer Rezension des Journalisten Steve Sutherland vom Magazin Melody Maker, der vom dritten Album der Band, Treasure, sichtlich angetan war. Die Aussage mag zwar ein wenig übertrieben formuliert sein – so sehr, dass die Band selbst davon eher genervt war –, dennoch versteht man, was Sutherland damit meinte. Denn das schottische Trio schuf vor vierzig Jahren mit Treasure ein Album, das für seine Zeit ungewöhnlich transzendent klingt – der Grundstein für etliche Künstler:innen, die sich später Begriffen wie Dream Pop oder Shoegaze verschrieben.

Treasure ist als Wendepunkt in der Karriere der Cocteau Twins zu verstehen: Noch waren sie nicht ganz bei dem euphorischen Sound angekommen, der etwa das 1990er-Album Heaven Or Las Vegas zu so einer Koryphäe der eben genannten Genres machen würde. Das schottische Trio steckte aber auch nicht mehr im Post-Punk und Gothic Rock der Alben Garlands und Head Over Heels fest, dennoch hört man diese Wurzeln noch. Auf Treasure legten Cocteau Twins noch mehr als zuvor Wert auf Atmosphäre, auf Abstraktes, auf das Erschaffen von Bildern in Musik.

Stimme als Instrument

Schließlich war dies auch der Punkt, an dem Sängerin Elizabeth Fraser begann, ihre Texte vom wörtlichen Sinn zu befreien. Sie sang Wörter, die in dem Kontext phonetisch gut klangen oder auch überhaupt keine Wörter waren. Und das macht definitiv auch einen Teil des Appeals aus. Zum einen ließ es Fraser den Freiraum, mit ihrer Stimme zu experimentieren: Sie nutzte ungewöhnliche Melodien, Betonungen und Gesangsstile, sie jodelte und flüsterte. Hauptsache expressiv und bildreich. Zum anderen macht es alles etwas mysteriöser, als wäre Frasers Stimme die eines mystischen Wesens, dessen Sprache man nicht versteht. Man denkt nicht mehr über die Bedeutung von Wörtern nach, sondern kann seine ganz eigene Interpretation erschaffen.

In Beatrix, welches ohnehin recht mittelalterlich und gothic klingt, wirken Frasers sich duellierende und gegenseitig aufschaukelnde, tiefe Stimmen wie ein Kult von Hexen oder Elfen. Die hohen Seufzer in Lorelei wiederum rufen eher Assoziationen von Engeln hervor – oder wie es der Titel nahelegt, eine betörende Sirene. Die Songtitel helfen bei den eigenen Interpretationen nämlich auch weiter. Alle zehn sind Namen, die entweder der Mythologie entspringen oder einfach antik und mystisch klingen. Der Opener Ivo ist dabei allerdings tatsächlich Ivo Watts-Russell gewidmet, dem Chef des legendären Musiklabels 4AD, auf dem Cocteau Twins einer der wichtigsten Acts war.

Schöne Fremdartigkeit

Jeder der Songs auf Treasure wirkt wie ein Ort, an den man beim Hören transportiert wird. Denn einen ohrwurmigen Pop-Song zu schreiben, war nicht die Priorität. Zum Kompositionsprozess der Band sagte Bassist Simon Raymonde in einem Interview mit dem Jamming Magazine: „Im traditionellen Sinne sind es nicht wirklich Songs. Songwriter:innen sind für mich Leute, die sich mit einer Akustikgitarre und einem Klavier hinsetzen, methodisch die Akkorde ausarbeiten und welche Wörter zu diesen Akkorden passen, es alles zusammenbauen. So arbeiten wir nicht. Meistens ist es eher: Tonbandgerät anschmeißen und hoffentlich haben wir dann in zehn Minuten etwas. Dann kommt Liz meistens runter, hört sich das an und singt drüber. Es ist kein Songwriting, es ist Musik.“

Traditionell soll es nicht sein, sondern evokativ, gerne auch fremdartig. Eine der besten Beschreibungen lieferte Jeff Terich vom Treblezine: „Treasure ist eine Übung darin, Schönheit fremdartig wirken zu lassen und Entfremdung schön wirken zu lassen.“ Dieses Prinzip kann man mittlerweile bei einigen Acts erkennen, seien es Radiohead, Sigur Rós oder James Blake.

Folglich werden nicht nur Stimmen verfremdet, sondern auch andere Instrumente. Robin Guthries Gitarren spielen simple Lines, werden dafür aber in Delay und anderen Effekten getränkt, um möglichst himmlisch zu klingen. Simon Raymondes Bass erdet die Songs, während die Drums einen starken Kontrast setzen: Hart und hallig klingende Drumsamples halten die sphärisch klingenden Gesangsmelodien und Gitarrenwände in einem Vakuum gefangen, was einen klaustrophobischen Effekt hat. Das ist ein bedeutender Teil von Treasure, die Cocteau Twins selbst sind aber tatsächlich keine Fans davon. Guthrie bezeichnete es wegen der dürftigen technischen Mittel sogar als ihr schlechtestes Album – eine Meinung, in der die Band wahrscheinlich allein ist.

Nach 40 Jahren noch einflussreich

Vor kommerziellem Erfolg scheuten sich Cocteau Twins eher. So sehr, dass sie sogar einen Auftritt bei Top Of The Pops im selben Jahr absagten. Dennoch wurde Treasure zu einem Kult-Album; mit Lorelei entstand sogar ein kleinerer Hit und einer der ikonischsten Songs der Band. Er lebt von einer gleichzeitig nostalgischen und schmerzhaften Stimmung, die man unbestreitbar auch bei heutigen Dream-Pop-Größen wie Beach House wiedererkennt. Nicht ohne Grund nannte Robert Smith von The Cure in der Doku Beautiful Noise das Album den „romantischsten Sound, den ich je gehört habe.“

Weiter stöbern im Circle Mag: