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Ein Gespräch mit Sion: „Es ist K-Hyper-Pop.“

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2020 schaffte es der damals 17-jährige Sion Jung bis in Halbfinale von „The Voice“, wo er dann zum Beispiel Post Malones Better Now sang und einen selbst produzierten Beat drunter legte. Heute lebt der koreanisch-deutsche Sänger, Musiker und Produzent seit vier Jahren in Seoul, ist bei dem geschmackssicheren koreanischen Label Beautiful Noise unter Vertrag und hat gerade mit der EP eigensinn einen herrlichen Hyperpop-Wahnsinn veröffentlicht, den er Anfang Dezember live in Deutschland vorstellen wird. Gibt also genug Gründe für einen Zoom-Call nach Korea, in dem wir auch die Frage klären, ob es eigentlich Fluch oder Segen ist, dass die K-Pop-Industrie gerade den Blick auf Koreas Indie-Szene überstrahlt.

Hey Sion: Gerade ist deine EP Eigensinn erschienen, bei der du trotz des deutschen Titels überwiegend auf Englisch oder Koreanisch singst. Ich finde das Wort sehr schön, weil es irgendwie in derselben Liga spielt, wie die deutschen Worte „Zeitgeist“ oder „Weltschmerz“, die es auch im Originalklang in das englische Vokabular geschafft haben. Warum dieser Titel?

Erstens wollte ich damit unterstreichen, dass ich in Deutschland geboren wurde und das natürlich mein Leben mitgeprägt hat. Zweitens fand ich einfach keine passende Übersetzung – und denke auch, dass „eigensinn“ ein sehr spezielles, universell verständliches Wort ist. So wie die von dir genannten. Auf der EP geht es viel um persönliche Schmerzen, die irgendwie von mir selbst erzeugt wurden, deshalb passte „eigensinn“ einfach perfekt. 

Das Internet – oder besser: das Aufwachsen im Internet – spielt eine zentrale Rolle auf der EP und prägt auch die Visuals. Warum gerade dieses Thema? 

Ich wollte zeigen, wie dieses Aufwachsen für meine Generation gewesen ist und wie es sie bis heute prägt. Seit ich in Korea lebe, ist mir das noch mal deutlicher bewusst geworden. Ich bin ja als Künstler im Internet ständig mit Kommentaren und Retweets konfrontiert und da merke ich einfach sehr oft, wie toxisch meine Generation in vielen Dingen ist. Das merke ich auch an mir selbst – an der Art, wie ich agiere und mit Problemen umgehe. Wenn ich irgendwie ein Problem habe, muss ich es ja eigentlich lösen. Aber stattdessen bin ich dann einfach auf dem Phone unterwegs, gehe durch diverse Reels und versuche das Problem einfach zu vergessen. Während der Arbeit an der EP habe ich lange darüber nachgedacht, wie das eigentlich so weit kommen konnte. Ich glaube, es liegt daran, dass unsere Eltern sehr darauf fokussiert waren, uns im echten Leben zu beschützen. Aber irgendwie hatten sie keine Ahnung davon und keine Kontrolle darüber, wie wir im digitalen Leben unterwegs sind – und was uns dort so alles begegnet. So hat sich meine Generation ihren eigenen Untergang zusammengebaut. Das wollte ich mit diesen Liedern sagen. Gleichzeitig finde ich es sehr ironisch, dass ich sage, wie kacke das alles war – und dabei viele Referenzen auf elektronische Musik der Zehnerjahre nutze, die ja in dieser digitalen Welt groß wurde. 

Hört euch hier Sions EP an:

Du bist in einem Haushalt aufgewachsen, in dem vor allem klassische Musik regierte – deine Eltern sind Opern-Musiker:innen. Wie sah denn eigentlich deine Musiksozialisation aus, dass da jetzt so ein wilder Hyper-Pop-Sound rauskommen konnte?

Da ist natürlich eine gewisse Rebellion in meinem Sound, weil ich eben in einem sehr klassischen Umfeld aufgewachsen bin und seit dem Kindesalter Klavier spiele. Da hört man nicht so oft laute und chaotische Geräusche wie jene auf meiner EP. Meine Eltern waren auch eher skeptisch gegenüber Popmusik – bis ich angefangen habe, welche zu machen und sie ein wenig überzeugen konnte. Aber vorher hieß es: Nur klassische Musik ist richtige Musik. Na ja, ganz so schlimm war es nicht, aber meistens habe ich halt nur klassische Musik gehört – bis ich Pop entdeckte und plötzlich das Gefühl hatte, Klassik ist gar nicht so meins. Ab da hatte ich instinktiv das Verlangen danach, das Gegenteil zu machen und meinen eigenen Sound zu finden. Meine ersten EPs love (2022) und socioavoidance“ (2024) sehe ich heute eher als Versuch, dem nahezukommen. Mit eigensinn bin ich jetzt glaube ich für den Moment ganz nah dran – die EP ist vom Genre her einfach das komplette Gegenteil von dem, was ich in meiner Kindheit gehört und gemacht habe.

Wer sich durch deine Ouevre hört, findet viele Stile – auch lupenreinen Pop. Auf eigensinn gefällt mir vor allem der Song homes. Hättest du den anders produziert und nicht so herrlich zerschossen, hätte das auch eine Mainstream-Ballade für das US-Radio, eine K-Pop-Ballade oder sogar ein breitkreuzig produzierter Rocksong sein können – das geben Songstruktur und Songwriting durchaus her. War das so was wie ein cheeky „Ich könnte, wenn ich wollte“? 

Ich glaube, das trifft es ganz gut. Mein Sound ist auch eine gewisse Art der Rebellion gegenüber den K-Pop-Strukturen. Diese Industrie ist hier natürlich sehr präsent und bringt viele Zwänge mit sich. Das ist kein Disrespect gegenüber der koreanischen Musikindustrie, aber man kann schon sagen, dass K-Pop sehr kalkuliert ist. Ich wollte gleichzeitig zeigen, dass ich Pop-Strukturen draufhabe, mich aber bewusst dazu entschieden habe, nicht diesen Weg zu gehen. Ich will etwas Spezielles erschaffen, habe aber gleichzeitig eine große Liebe für Popmusik. Ich glaube, ein Song wie homes verinnerlicht beides.

Ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich K-Pop so liebe. Eigentlich komme ich vom Grunge und vom Punk und deshalb sind mir viele Seiten dieser Industrie eigentlich zuwider. Aber trotzdem kriegen mich viele dieser Bands mit ihren Performances, ihren Styles und ihren K-Pop-Bangern. Außerdem gibt es ja sehr fruchtbare Verbindungen zwischen dem koreanischen Underground und der K-Pop-Industrie. Dein Label-Kollege Zior Park taucht zum Beispiel in den Producer Credits vom aktuellen RM-Soloalbum Right People, Wrong Place auf – also eine direkte Brücke ins BTS-Lager. Ist es für dich eher Fluch oder Segen, dass man heutzutage als koreanischer Indie-Künstler oder Produzent im Ausland immer automatisch mit dem Label „K-Pop“ assoziiert wird? 

Als ich mit dem Musikmachen angefangen und erste Songs veröffentlicht habe, nervte es mich ehrlicherweise noch sehr. Da hatte ich noch diesen Kick, dass ich Indie-Musiker bin und eben nicht in dieser Riesen-Industrie hänge. Da war ich so drauf, dass ich immer sagte: „Ey Leute, ich bin doch kein K-Pop!“ Aber nach einer Weile habe ich irgendwie gespürt, dass das auch nicht hundertprozentig stimmt. Plötzlich dachte ich: „Ja, doch. Eigentlich bin ich K-Pop. Ich bin Koreaner und mache Hyper-Pop-Musik. Es ist K-Hyper-Pop.“ Im Endeffekt ist K-Pop einfach nur ein Label, das stilistisch eh ein sehr weites Feld aufmacht. Meine Songs klingen nicht wie die großen K-Pop-Hits, aber ich bin Koreaner, und ich mache Pop. Populäre Musik. Deswegen wehre ich mich seit letztem Jahr nicht mehr, wenn man mich K-Pop-Künstler nennt – auch weil ich großen Respekt vor dieser Industrie habe.

Eine letzte Frage noch zu „The Voice“. Wenn wir hier so reden und wenn ich deine EP so höre, kriege ich dich kaum mit dem Sion zusammen, den man in den alten „The Voice“-Clips noch sehen kann. Andererseits finde ich es sehr spannend, dass deine Coaches Nico Santos und Mark Forster schon damals sagten, sie sähen in dir mehr als einen bloßen Performer. Wie schaust du auf diese Erfahrung zurück? 

Ich würde sagen: Sie hatten total recht damit. Ich weiß bis heute nicht, wie sie es gesehen haben, aber vor allem Nico hat mir sehr früh vermittelt, dass er irgendwie viel mehr in mir sieht als einen klassischen „The Voice“-Performer und fest daran glaubt, dass ich danach noch viel eigenes Zeug machen werde. Ich weiß wie gesagt nicht, was er in mir gesehen hat, aber ja, das war schon ziemlich krass und im Rückblick sehr wichtig für mich.


Danke für das Gespräch Sion! Wir sehen uns dann Anfang Dezember auf deiner Tour.

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