Lucinda Williams - Car Wheels On A Gravel Road
Es ist schon eine ganze Weile her: Sommer 1999. Ich war auf Geschäftsreise in Nashville, die Summer NAMM – eine Messe für die Musik-Instrumentenindustrie – hielt Hof. Nach zahllosen Terminen und noch mehr Gesprächen über die neueste Musiktechnik hatte ich noch ein paar Tage Zeit, bevor es wieder zurück in die deutsche Country-Diaspora ging. Tennessee wartete. Ich mietete mir ein Auto und rollte über die Interstate 65 Richtung Süden, Ziel: die putzige Kleinstadt Franklin. Doch erst als ich das vierspurige, vielbefahrene Teerband verließ, um in Brentwood auf kleinen Straßen meinem Ziel näher zu kommen, stellte sich das gewünschte Highway-Gefühl ein: stressfreies Cruisen. Zeit für die Landschaft. Ich suchte im Autoradio nach dem passenden Soundtrack für die vorbei gleitenden Hügel von Williamson County, zappte durch die Sender – mit kurzer Verweildauer. Alles hörte sich banal und einförmig an. Bei einem Alternative-Country-Sender blieb ich hängen. Dafür sorgte ein strammer Country-Rock-Song – „Right In Time“, rauhkehlig gesungen von einer faszinierenden Frau. Der Song fesselte mich ab den ersten Takten: packender Groove, überraschende Dynamik, starke Harmonien und – vor allem – die Sängerin, die mit einer schnoddrigen Lässigkeit der eigentlich recht konventionellen Country-Melodie zu Leibe rückte. Ich wartete gespannt auf die Abmoderation, drehte die Lautstärke voll auf und hörte den Moderator dankenswerterweise „Lucinda Williams“ und etwas von ihrem gerade erschienenen Album „Car Wheels On A Gravel Road“ sagen. Ich notierte mir beides noch während der Fahrt – und hatte einen neuen Liebling.
Lucinda WilliamsLucinda Williams machte schon damals Americana. Jahre bevor sich findige Marketing-Strategen diesen griffigen Genre-Namen ausgedacht haben, um ihn zur hippen Marke zu formen. Americana ist ja eher ein Auffangbecken unterschiedlicher Stilrichtungen und Einflüsse, als ein klar definierter Sound. Die Grenzen zwischen Folk, Country, Blues und Rock sind fließend – nur gegenüber dem formatierten Mainstream aus der Music-Row-Schmiede bezieht es klar Position. Kein Wunder, dass die Bewahrer der traditionellen amerikanischen Musik die seit jeher konsequent gegen den Strom singende Lucinda Williams wie eine Heilsbringerin verehren. Vor allem: wegen „Car Wheels On A Gravel Road“. Das gleich von mehreren Produzenten – darunter: Rick Rubin, Roy Bittan, Steve Earle – entworfene Werk hat schließlich alles, was ein großartiges Album braucht: Starke Songs, emotionalen Tiefgang, hohen Wiedererkennungswert, eine klare Aussage und mit Lucinda Williams eine Interpretin, die sich kratzbürstig gegen jede Mode und gegen jeden formatierten Trend stemmt. Ihr Platz ist zwischen den Stühlen. Für Country ist sie zu rockig; für Alternative-Rock zu country und für Folk ist sie sowohl zu country als auch zu rockig. Um es klarer zu sagen: Die 1953 in Lake Charles, Louisiana, geborene Tochter eines Dichters und Literaturprofessors lässt keine Genre-Schubladen gelten. Auch wenn diese Haltung etliche Jahre lang größere Erfolge verhinderte, konnte sie mit „Car Wheels On A Gravel Road“ endlich die verdiente Ernte einfahren. Mehr noch: Sie landete den richtig großen Wurf, die Kritik überschlug sich vor Euphorie. Der Rolling Stone gab alle fünf Punkte, Village Voice die Bestnote A+, AllMusic fünf von fünf Sternen und sogar der kritische NME gab 9 von 10 Punkten. Der Grammy in der Kategorie „Best Contemporary Folk Album“ war da schon fast Ehrensache.
Lucinda WilliamsDem Geheimnis der 13 Titel kommt man aber nicht so leicht auf die Spur. Denn die kunstvoll ausgesteckten Melodiebögen und die betont ruppigen Arrangements geben sich nicht als Schönheiten auf den ersten Blick zu erkennen. Im Gegenteil: Sie sprechen eine Einladung aus. Eine Aufforderung, sich mit den Harmonien und den – stets persönlichen, oft düsteren – Texten intensiver zu beschäftigen. Was sich unbedingt lohnt. Man nehme nur „Jackson“, den 13. und damit letzten Titel der CD. Eine exzellente, sich mühsam aufbauende Ballade mit einer wehmütigen Stimmung wie sie vielleicht nur noch Mary Chapin Carpenter herzustellen vermag. Oder „Can’t Let Go“, ein straffer Folk-Blues mit einem dynamischen Slide-Solo. Oder das an Crosby, Stills & Nash erinnernde „Metal Firecracker“. Oder „Greenville“, bei dem Emmylou Harris wunderbare Harmony-Vocals beisteuert.
Lucinda WilliamsLucinda Williams ist, so die Legende, eine ausgemachte Perfektionistin. Über vier Jahre lang hat sie angeblich an ihrem Meilenstein geschrieben und gehobelt und anfangs mit Rick Rubin (Johnny Cash) und später mit einer ganzen Schar an Produzenten an den Sounds gefeilt. Der Witz ist: Die Musik durfte nicht perfekt, sondern möglichst spontan, frisch und damit also unperfekt klingen. Und das gelang ihr wiederum perfekt. Eine Riege hochtalentierter Nashville-Musiker, wie die Gitarristen Buddy Miller, Steve Earle und Charlie Sexton, Mandolinen-Star Greg Leisz sowie Sänger Jim Lauderdale veredelten diesen Meilenstein der Musikgeschichte mit virtuosem Spiel. Ein Album, das 2015 genauso aktuell und großartig klingt, wie schon Anno 1999.
Text: Gunther Matejka