Pussy Riot: Wie die Russinnen am 21.02.2012 mit ihrem Punk-Gebet den Kreml schocken
popkultur21.02.22
Die Kirche, Ort der Andacht und Introspektion. Nicht für ein bunt gekleidetes Kollektiv aus jungen Russinnen: Am 21.02.2012 entern die feministischen Punks von Pussy Riot die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau und schicken ein Gebet der etwas anderen Art gen Himmel. Der medienwirksame Auftritt zieht schwerwiegende Folgen mit sich.
von Victoria Schaffrath
Schaut euch hier das Video zu Punk Prayer an, das im Original sogar gesperrt ist:
Möchte man als Band im Zeitalter von Social Media auf sich aufmerksam machen, dann darf man sich mühselig am Algorithmus abrackern und aufs Beste hoffen. Versteht man sich allerdings als Mahn-Instanz in bester Punk-Tradition und hat Größeres im Blick als Reichweite und Likes, kann man auch gleich eine symbolträchtige Kirche in Beschlag nehmen und in Neonfarben gehüllt einen Protestsong verkünden. Das Resultat einer solchen Aktion gehört dann selbstverständlich ins Internet. So macht es am 21. Februar 2012 das Musik- und Performance-Art-Kollektiv Pussy Riot – und gerät prompt ins Visier der russischen Staatsführung.
Debüt mit Konsequenzen
Doch warum entscheiden sich junge Russen und Russinnen für die Provokation einer Regierung, die gegnerische Stimmen gern mit Stalin-artiger Härte zum Schweigen bringt? Lange gibt es die Gruppe zu diesem Zeitpunkt schließlich noch nicht; Pussy Riot gründet sich erst Ende 2011. Teile der bis heute stetig wechselnden Belegschaft kennen sich allerdings schon von einem anderen Projekt, dem anarchistischen Kollektiv Woina (zu Deutsch „Krieg“), für das grenzüberschreitende Aktionen zum Alltag gehören. Politik und Protest dienen der Kunst seit jeher als Daseinsberechtigung, und in Russland mangelt es nicht an Dingen, die angeprangert gehören.
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Musikalisch lässt sich die Gruppe übrigens in die Riot Grrrl-Bewegung einordnen, bearbeitet Themen vor allem aus einer feministischen Perspektive. Als Vorbilder gibt sie Bands wie Bikini Kill an, deren Frontfrau Kathleen Hanna sich seitdem wohlwollend über den Nachwuchs geäußert hat.
Pussy Riot: Aktivismus in musikalischem Gewand
So kommt es also, dass sich am 21. Februar 2021 ein Teil von Pussy Riot zur Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau aufmacht. Einige Frauen des Teams hüllen sich in bunte Sturmhauben und Kleider und haben einen Song namens Punk Prayer im Gepäck, der mit den veralteten Doktrinen der orthodoxen Kirche aufräumen soll und auch deren Verbindung zu Staatsoberhaupt Wladimir Putin nicht außer Acht lässt: „Jungfräuliche Mutter Gottes, vertreibe Putin“ und „Der Pride-Umzug zieht in Ketten nach Sibirien“ schallt es durch die Kathedrale.
Während die bunt gekleideten Protagonistinnen eine energetische Performance liefern, halten die übrigen Beteiligten mit der Kamera drauf. Als besonderes Schmankerl dienen Zwischenaufnahmen schockierter Kirchengäste, denen die etwas andere Fürbitte ordentlich die Gebetsschnur verheddert haben dürfte. Das Sicherheitspersonal des Gotteshauses lässt natürlich nicht lange auf sich warten, doch zumindest 41 Sekunden des Auftritts sind im Kasten. Kombiniert mit Bildern aus einer anderen Kirche geht das Video wenig später online.
Riot Grrrl-Nachwuchs vor Gericht
Die Kirche zeigt sich erzürnt über den Zwischenfall, der im Netz großen Anklang findet. Auch der Regierung ist die medienwirksame Kritik schnell ein Dorn im Auge, sodass wenige Tage nach der Aufzeichnung des Punk-Gebets drei Beteiligte verhaftet werden: Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Marija Aljochina wandern unter dem Vorwurf der groben Verletzung der öffentlichen Ordnung in Untersuchungshaft.
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Im Sommer 2012 folgt das Verfahren – an sich bereits Grund zur Sorge, denn die Frauen sitzen nun seit Monaten für eine angebliche Straftat in Haft, die laut Fachleuten lediglich eine geringe Geldstrafe verdient. Zum Prozessauftakt finden weltweit Kundgebungen statt, auf denen die Teilnehmer*innen mit symbolischen bunten Sturmhauben ihre Solidarität ausdrücken. Doch der öffentliche Druck nützt nichts, und Tolokonnikowa, Samuzewitsch und Aljochina werden zu je zwei Jahren Arbeitslager verurteilt.
Pussy Riot seit der Verurteilung 2012
Samuzewitsch erwirkt kurze Zeit später eine Bewährungsstrafe, zeigt sich jedoch weiterhin solidarisch. Auch der Rest der Truppe bleibt während der Inhaftierung seiner inzwischen prominenten Leitfiguren aktiv. Kurz vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Sotschi dann die Wende: Tolokonnikowa und Aljochina erwartet die PR-taugliche Entlassung. Dass die beiden sich bei besagtem Sportereignis dann gleich für eine weitere Aktion festnehmen lassen? Ehrensache.
Das Kollektiv richtet seine Aufmerksamkeit mittlerweile auch auf internationale Missstände, schickt beispielsweise während der Fußballweltmeisterschaft 2018 vier Mitglieder aufs Spielfeld oder kritisiert Ex-US-Präsident Donald Trump; die Schnittstelle zwischen Protest, Performance und Musik bleibt also bestehen. Als Fans outen sich seit dem Punk-Gebet unter anderem Größen wie Madonna, Yoko Ono, Tom Morello und Peter Gabriel.
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