Aus Ska und Rocksteady formte sich gegen Ende der 1960er-Jahre auf Jamaika der klassische Reggae. Spätestens mit dem großen internationalen Erfolg von Bob Marley war Reggae in aller Munde. Der Einfluss dieses Sounds steckt heute in zahlreichen Genres der Popmusik, von Hip-Hop bis Techno. Eine kleine Musikgeschichte.
von Michael Döringer
Drums und Bass
Die Drums, der Bass, der entspannte Vibe: Reggae-Sound erkennt man sofort. Die Assoziationen reichen von Karibikträumen über politische Inhalte bis zu Kiffer-Klischees. Kein anderes Genre erzeugt über die Musik so eindeutige Bilder und Gefühle wie Reggae. Und wenige Stile schaffen mit so simplen Mitteln eine so starke Wirkung und Wiedererkennbarkeit. Das ist mit ein Grund, wieso Reggae seit den 1970ern auf der ganzen Welt so populär wurde und nicht nur lokale Reggae-Szenen außerhalb Jamaikas entstehen ließ, sondern auch auf fast jede andere Musikform abfärbte. Das anarchistische Lebens- und Freiheitsgefühl, das Bob Marley verkörperte, genau so wie die Produktionsmethoden von Dub, also der instrumentalen Remix-Variante von Reggae.
Wie und wo Reggae und die jamaikanische Musikkultur zuerst auf fruchtbaren fremden Boden stießen, ist historisch eindeutig auszumachen: Jamaika war bis in die Sechziger eine britische Kolonie, noch heute ist Queen Elizabeth II. offiziell das Staatsoberhaupt. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten zahlreiche Menschen aus der Karibik nach Großbritannien, ihre Arbeitskraft war gefragt, um das Land nach dem Krieg wieder aufzubauen. Der kulturelle Einfluss dieser Communitys war groß, und auch die Musikindustrie brachte jamaikanische Künstler*innen nach Europa. Besonders wichtig waren dabei Island Records und Chris Blackwell, der unter anderem Bob Marleys Karriere formte.
Reggae im Rock
Reggae und Ska waren ab den 1960ern in der englischen Skinhead-Szene beliebt, und auch außerhalb der Subkulturen spürte man erste Einflüsse: Im frühen Beatles-Song I Call Your Name kommt eine kurze Ska-beeinflusste Passage vor, 1968 schnappten sich Lennon-McCartney einen noch deutlicheren Ska/Reggae-Rhythmus für Ob-La-Di, Ob-La-Da. Rockmusik und Reggae kamen sich jetzt näher, mal eher als Hommage, mal als Aneignung. Dazu gehört natürlich auch Eric Claptons Coverversion von I Shot The Sheriff oder die Hits von 10cc.
Punky Reggae Party
Punk und Reggae verbrüderten sich von Anfang an, immerhin teilte man ein revolutionäres Lebensgefühl. Punks liebten Reggae und viele Post-Punk-Bands experimentierten später mit den Sounds und Klangeffekten von Dub. Etwa John Lydon, ehemals Johnny Rotten von den Sex Pistols, der sich mit Public Image Ltd. einem experimentelleren Sound widmete. The Clash coverten schon auf ihrem 77er-Debütalbum die Roots-Nummer Police & Thieves von Junior Murvin und Lee Perry, Bob Marley erwiderte die Respektbekundung mit seinem Song Punky Reggae Party. Er stellte sich in den Lyrics eine Party der „New Wave“ vor, bei der The Damned, The Jam und The Clash anwesend sind, sowie die Wailers und die Maytals – nur keine „boring old farts“.
Auch The Police waren zu Beginn ihrer Karrie stark geprägt von Punk und lieferten auf ihrem Debütalbum gleich mit drei Songs die Blaupause für alle zukünftigen Rock-Reggae-Songs: So Lonely, Roxanne und Can’t Stand Losing You inkorporieren in den Strophen einen entspannten und typisch mit Gitarre oder Keyboards akzentuierten Reggae-Beat, um dann im Refrain aggressiver loszurocken.
Parallel dazu fand Ende der 1970er in Großbritannien ein großes Ska-Revival statt. 2 Tone Records begründete den modernen, wiederum durch Punk und New Wave beeinflussten Ska-Stil, The Specials, Madness und The Beat wurden zu den prominentesten Vertretern. Eine dritte Ska-Welle Ende der 1980er führte später dann vor allem in den USA zu neuen Spielarten wie Ska-Punk.
Von Kingston in die Bronx
Und weil wir gerade bei den USA sind: Dort machte sich der Einfluss der jamaikanischen Musikkultur schon deutlich früher bemerkbar und bildete die Basis für das heute populärste Genre überhaupt: Hip-Hop. Einer der Gründerväter des Hip-Hop in der New Yorker South Bronx war DJ Kool Herc, der aus Kingston stammte. Er betonte von Anfang an, welche große Rolle seine jamaikanischen Wurzeln dabei spielten, wie er die neuen Techniken und Sounds von Hip-Hop mitentwickelte. Das Konzept des MCs, der live über die Platten des DJs rappt, wurde direkt von jamaikanischen Sound Systems übernommen, und auch das Sampling und Looping der Hip-Hop-Beats leitet sich von jamaikanischen Dub-Mixes ab, bei denen Edits beziehungsweise Instrumental-Mixe von Roots-Songs erstellt wurden. Dass von den 1990er-Jahren an immer wieder Rap- und Reggae- oder Dancehall-Acts miteinander Tracks aufnahmen, war die selbstverständliche Weiterführung einer langen gemeinsamen Tradition.
Der neue Minimalismus
Auch die elektronische Musik schwelgt bis heute in den visionären Klangdimensionen der jamaikanischen Dub-Engineers. Dub wurde einerseits zu einem eigenständigen Sub-Genre, das nicht mehr zwangsläufig an Roots Reggae und Rastafari gebunden war, andererseits zu einer Ästhetik, die ab den 1980er-Jahren in zahlreiche Genres einfloss, von Dream Pop und Ambient über Jungle und Drum’n’Bass bis Techno. Es bildeten sich Substile wie Dubstep und Dubtechno, die mit Bass, Drums und enormen Hallräumen eine neue minimalistische Schule in der Clubmusik schufen. Die Berliner Techno-Pioniere Basic Channel alias Moritz von Oswald und Mark Ernestus waren so stark von jamaikanischem Sound beeinflusst, dass sie dezidierte Dub-Projekte wie Rhythm & Sound starteten und dabei direkt mit jamaikanischen Künstler*innen zusammenarbeiteten.
In diesen verschiedenen Formen lebt der Einfluss jamaikanischer Musik bis heute weiter. Neue Dub-Mixes oder Rock-Reggae-Crossover sind sozusagen an der Tagesordnung. Klassischen Roots Reggae gibt es immer noch, der etwas partytauglichere und säkulare Dancehall geht wie Hip-Hop immer neue Evolutionsstufen ein. Und natürlich bilden Reggae und karibische Rhythmen auch die Basis eines der momentan heißesten Genres weltweit: Reggaeton beziehungsweise Urbano Latino. Ob in den Charts oder dem subkulturellen Underground – der Sound Jamaikas ist hat die Welt im Griff.