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Foto: Nina Westervelt/Variety via Getty Images

Review: Ethel Cain wird mit „Willoughby Tucker, I’ll Always Love You“ zur Southern-Gothic-Heiligen

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Sie brauchte nur ein Album, um zur Kultfigur zu werden. Jetzt ist Ethel Cain mit Willoughby Tucker, I’ll Always Love You zurück. Der Nachfolger ist eigentlich ein Prequel – und steigt in 75 Minuten leise, elegisch und ahnungsvoll in den sakralen Mystizismus des Southern-Gothic-Pop herab. Eine Reise ins Herz der Dunkelheit.

Die Geschichte von Ethel Cain passt eigentlich so gar nicht in die heutige Musiklandschaft. Wo alles von Algorithmen, Streaming-Zahlen, kurzen Singles und TikTok-Snippets regiert wird, bahnt sich mit ihr eine junge Künstlerin und Pastorentochter aus Florida einen Weg aus ihrem Schlafzimmer in den Mainstream, der komplett anachronistisch verläuft. Ihr Debütalbum Preacher’s Daughter wird 2022 zur Sensation. Darauf vereinigt die Künstlerin düstere Americana-Popsongs mit dräuenden Ambient-Passagen und trägt ein Album mit 75 Minuten und überlangen Songs in den Mainstream, der dafür eigentlich längst nicht mehr gemacht ist.

Die Abgründe Amerikas

Das ist aber nur der Anfang. Ethel Cain strickt ein faszinierendes und einnehmendes Narrativ um ihre Musik, das die Geschichte ihrer Persona Ethel Cain erzählt, einer jungen Frau, die im konservativ-christlichen Süden der USA zwischen sexueller Gewalt und Familientraumata taumelt. Am Ende ihres Debüts lässt sie ihr Alter Ego sogar ermorden und aus dem Jenseits singen.

Was da noch kommen soll? Nun, zunächst mal eine EP mit verstörendem Dark Ambient, die auf den schönen Namen Perverts hört und skelettartige Balladen mit dröhnenden Drones verbindet. Und jetzt mit Willoughby Tucker, I’ll Always Love You endlich ihr zweites Studioalbum. Das ist wieder 75 Minuten lang geworden, wieder voller düsterer Symbolik, Schatten und Abgründe. Diesmal jedoch erzählt diese Abwärtsspirale aus Liebe und Lust die Vorgeschichte von Preacher’s Daughter. Und nimmt mit in die Vergangenheit von Ethel Cain.

Lana Del Rey trifft Swans

Mittlerweile ist Hayden Anhedönia alias Ethel Cain aber eben kein Geheimtipp mehr. Sondern eine Kultfigur, die in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Zahl an Anhänger:innen hinter sich versammelt hat. Ihre Fans lieben sie für ihre Symbolsprache, für ihre Rolle als queere Ikone, für ihren unkategorisierbaren Sound, der irgendwie so klingt, als würde Lana Del Rey gemeinsam mit Chelsea Wolfe und Swans Musik machen.

Tief durchdrungen vom Mystizismus der Südstaaten, von Aberglaube, Folk Horror und Southern-Gothic-Tropen ist natürlich auch Willoughby Tucker, I’ll Always Love You. Allein Willoughby’s Theme, ihr Lieblingssong, ist ein Dark-Americana-Meisterwerk, das auch einen Südstaatenkrimi untermalen könnte. Cinematisch war ihre Musik schon immer: Ursprünglich wollte Hayden Anhedönia Filme drehen. Jetzt malt sie eben mit ihrer Musik filmische Bilder. Und das machen derzeit wenige besser als sie.

Morbide, spirituell, gotisch, uramerikanisch

Das Album ist zu gleichen Teilen morbide und spirituell, gotisch und uramerikanisch. Sie gibt sich sanfter als auf vorherigen Veröffentlichungen, regelrecht dreamy sogar, wenn man sich etwa die Single Fuck Me Eyes anhört. Die könnte auch eine Folge von Stranger Things begleiten. Vielleicht liegt die Sanftheit daran, dass sie hier von einer Ethel Cain als Teenagerin erzählt. Von einer Protagonistin, die weniger erleiden und erdulden musste als die Frau, die uns auf Preacher’s Daughter begegnet.

Besagte Single ist im Grunde er einzige Popsong auf einem Album, das lustvoll und lakonisch in die Dunkelheit herabsteigt. Nettles, ebenfalls eine Single, ist grandios, mit acht Minuten aber eben alles andere als Pop und eher im verschleppten Country zuhause. Wer macht denn so was bitteschön?

Liebe und Tod

Wer anfällig ist für den maroden Mythos Amerikas, für die Sagen, Geschichten und Legenden aus der endlosen Weite dieses Landes, der wird sich sofort in den Slowcore von Dust Bowl verlieben. Ein Lied, das mit statischen Verzerrungen an unser Ohr dringt und erst nach knapp vier Minuten einen Ausbruch wagt. Dynamiken werden zaghaft und spärlich eingesetzt in diesen Songs. Aber wenn, dann erzielen sie immer das gewünschte Ergebnis.

Dass es Alben wie Willoughby Tucker, I’ll Always Love You überhaupt noch gibt, ist ein Segen. Dass eine Künstlerin damit durchkommt, mehr noch: dafür gefeiert wird, lässt hoffen. Ethel Cain ist eine Gegenbewegung zur Fast-Food-Musik. Wer sie wirklich verstehen, durchdringen will, muss sich Zeit nehmen. Muss sich einlassen auf eine dunkle, abgründige Welt, in der nichts ist wie es scheint. In der Regenwolken über weite Felder ziehen, verrostete Traktoren in der Landschaft stehen und Windräder einsam quietschen.

Selten wurde die Geschichte einer ersten unschuldigen Liebe mit so viel Gravitas, Schwere und Anmut erzählt. Hayden Anhedönia nimmt sich bewusst all die Zeit, die sie braucht. Wie ein Film mit langen Einstellungen und wenig Schnitten heraussticht unter all den schnellen Schnitten dieser Tage. Das ist keine mutige Entscheidung. Es ist einfach ihre Art und Weise, Geschichten zu erzählen. Geschichten, in der die Liebe und der Tod nie weit voneinander entfernt sind – wie im berühmten Gemälde „Ophelia“ von John Everett Millai. Nur treibt die Leiche bei ihr in einem Südstaatensumpf und nicht in einem englischen Fluss.

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