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Riot Girls: Die Musikerinnen, die die Welt veränderten

Aha, “noch ein Blog über Frauen in der Rockmusik”, um Bikini-Kill-Frontfrau Kathleen Hanna mal frei zu zitieren. Aber auch wenn wir mittlerweile in Zeiten leben, wo wir hoffen dürfen, bald nicht mehr von einer “all-female band” sprechen zu müssen statt einfach von … einer Band, ist es doch trotzdem angebracht, dass wir denen Respekt zollen, die den Weg dafür frei gemacht haben – mit Schweiß und Mühen.

Es war nicht immer einfach für Musikerinnen, offen feministisch zu sein – oder auch nur offen weiblich. Aber sie waren schon immer da, von Anfang an, besetzten Lücken, veränderten die Spielregeln, Schritt für Schritt für Schritt. Wir haben zwar nicht den Platz, allen zu danken, aber wir können zumindest mal anfangen…

Trust No Man

In dem Buch She Bop der Rockwissenschaftlerin Lucy O’Brien (Pflichtlektüre!) kann man nachlesen, dass die ersten Performer, die den Blues bekannt machten und damit erfolgreich Platten verkauften, Frauen waren. Die erste der sogenannten “Race Records” – Tracks, die auf den bis dahin brach liegenden Markt Schwarzer Amerikaner*innen zielten – von Okeh Records erschien 1920 und wurde von einer Frau gesungen: Mamie Smiths Crazy Blues.

Der erste große Erfolg, und auch die erste große Persönlichkeit, war Ma Rainey, die “Mother Of The Blues”. Sie hatte einen sehr direkten, bodenständigen Stil, auch wenn sie mit der Kette aus 20 Dollar-Goldstücken schon ein bisschen frühen Rockglamour versprühte und ihrem Publikum riet, Männern unter keinen Umständen zu trauen (Trust No Man). Zunächst tourte sie gemeinsam mit ihrem Mann, aber später machte sie über 100 Soloaufnahmen, investierte das Geld, das sie verdiente, in zwei Theater und konnte im Rentenalter ganz gut leben. Sie war es auch, die Bessie Smith entdeckte. Bessie Smith holte den Blues in den 1920er Jahren immer weiter in den Mainstream. In diesem Jahrzehnt waren Künstlerinnen erfolgreicher als ihre männlichen Kollegen.

Blues und Politik

Smith konnte bis zu 200 Dollar pro Seite für ihre Aufnahmen verdienen. Das ist ziemlich phänomenal, wenn man bedenkt, dass ein erfolgreicher männlicher Künstler ungefähr 15 Dollar bekam. Der Titel der ersten Aufnahme sagt eigentlich alles: T’Ain’t Nobody’s Business If I Do – stolz, trotzig, unangepasst. Sie war bekannt dafür, sich die Songs anderer Künstler herauszupicken und nicht lange nach deren Erscheinen eigene, bessere Versionen zu veröffentlichen. Auch ihr Äußeres zeigte, dass sie es ernst meinte – mit glitzernden Kleidern und Pfauenfedern trat sie ins Rampenlicht. O’Brien schreibt in ihrem Buch She Bop: “Smith hatte mehrere Ehemänner, aber keiner von ihnen bekam ihre bisexuellen Affären unter Kontrolle.” Die Autorin beschreibt eine Welt früher, unabhängiger Frauen, in der Songtitel wie Ain’t Much Good In The Best of Men Nowaday und One Hour Mama nicht ungewöhnlich waren und zeichnet damit ein anderes Bild als das der schwermütigen, von Liebeskummer gequälten Bluessängerin. Dazu kommt noch, dass die Künstlerinnen sich nicht aufs Singen beschränkten: Der Gitarrenstil von Memphis Minnie holte Einflüsse aus der alten Zeit in die elektrische Blueswelt. 1933 triumphierte sie vor den Augen eines begeisterten Publikums bei einem Gitarrenwettbewerb über Big Bill Broonzy.

Am Übergang zwischen Blues und Jazz wurde Billie Holiday zur interessantesten und gefeiertsten Stimme. “Lady Day” hatte viel von der Männerwelt zu erleiden gehabt – im Alter von 10 Jahren wurde sie vergewaltigt und mit 13 prostituierte sie sich. Ihr erster Job war als Putzkraft in einem Bordell, wo sie wie besessen die dort herumliegenden Bessie-Smith-Singles anhörte. Aus ihrer Wut und ihrem Schmerz entstanden einige der packendsten Songs aller Zeiten. Strange Fruit war das erste Mal, dass eine Künstlerin so politisch, so wütend und so offen über den Rassismus sprach, der ihr das Leben so schwer machte.

Die Stimme als Instrument

Auch Ella Fitzgerald riss Grenzen ein. Mit ihrer vielseitigen Stimme, die sie wie ein Instrument einsetzte, beherrschte sie die Bebop-Szene. Sie war die erste Schwarze Künstlerin, die als Headliner im Club Copacabana auftrat und auch später hörte sie nicht auf, sich weiterzuentwickeln. Noch 1989 wirkte sie auf Quincy Jones’ Album Back On The Block mit. Eine andere revolutionäre Künstlerin, Björk, sagt, dass sie schon in Kindertagen ein großer Fan war: “Ihr Gesang hat mich definitiv beeinflusst. Allerdings nicht stilistisch, sondern mehr in der Einstellung, dass man sich nicht so streng an Melodien halten muss”, erklärte sie 1994 in einem Interview mit dem Magazin Q. “Es geht um die Stimmung, die Emotionen. Und es ist egal, wenn man den Text vergisst. Man kann den Song trotzdem singen. Man kann tun, wonach einem gerade ist.”

Mit dieser Einstellung schaffte es schließlich auch die erste weibliche Künstlerin auf Platz 1 der US-Charts: Connie Francis stammte aus einer Familie mit italienischen Wurzeln und wurde als Concetta Franconero in New Jersey geboren. Nachdem sie eine ganze Reihe von Flops veröffentlicht hatte und ihr Vertrag auslief, dachte sie über eine Karriere in der Medizin nach. Bei ihrer letzten Studiosession im Jahr 1957 nahm sie ein Cover des Songs Who’s Sorry Now? von 1923 auf. Damit erreichte sie Platz 1 der britischen Charts (die 1952 schon mal die US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Jo Stafford mit dem Titel You Belong To Me angeführt hatte) und Platz 4 der US-Charts. 1960 wurde ihr Song Everybody’s Somebody’s Fool die erste US-Nummer 1 von einer Solokünstlerin.

Glitz und Glamour

Als Connie Francis die Herzen und die Charts eroberte, war sie der Typ “anständiges Mädchen”, aber im Laufe der Zeit entwickelte sich die Pop- und Rockmusik immer weiter und verschmolz mit anderen Musikstilen und die Künstlerinnen testeten ständig die Grenzen des musikalisch und visuell Akzeptablen aus. Wanda Jackson, die Queen des Rockabilly, war viel mehr als nur ein Anhängsel von King Elvis. Mit 11 hatte sie eine eigene Radiosendung und später ging sie mit ihrer eigenen Band auf Tour. Mit ihren Bühnenoutfits, die ihre Mutter für sie nähte, brachte sie Glitz und Glamour in die Countryszene, wie sie selbst erklärte. Und mit Songs wie My Big Iron Skillet (1969) versetzte sie treulose Ehemänner in Angst und Schrecken: “There’s gonna be some changes made when you get in tonight / ’Cause I'm gonna teach you wrong from right”.

Janis Joplin holte den Blues zurück in die Rockmusik der 1960er Jahre und tat dabei Dinge, die Künstlerinnen bis dato einfach nicht tun konnten. Als sie in der Schule damit begann, Folk und Blues zu singen, waren Ma Rainey und Bessie Smith ihre Vorbilder. Joplin wurde in der Schule nicht nur aufgrund ihres Gewichts und ihrer Aknenarben gemobbt, sondern auch wegen ihrer Begeisterung für Schwarze Musik. Joplin war eine der ersten Frauen in der Rockmusik, die die vielgepriesenen neuen Freiheiten der 60er Jahre – mit allen positiven und negativen Konsequenzen – ausnutzte und versuchte, sie mit derselben Selbstverständlichkeit zu genießen wie die Männer. Ihren Durchbruch hatte sie mit der Band Big Brother & The Holding Company beim Monterey Pop Festival 1967, aber es dauerte nicht lange, bis sie die Band überstrahlte. Für eine Zeit übernahm sie das Zepter im Studio und begann schließlich ihre Solokarriere, mit der sie eine ganze Generation weiblicher Freigeister inspirierte. “Wenn sie mich gesehen haben, dann denken sie vielleicht zweimal nach, wenn ihre Mutter ihnen wieder mit dem Kashmirpullover und Korsett kommen. Dann wissen sie, dass sie einfach sie selbst sein und damit Erfolg haben können”, sagte Joplin.

Männerdomäne Rock

Auch Grace Slick von Jefferson Airplane sprengte Grenzen. Sie verließ ihre erste Band und ihren Mann und wurde eine der wirklich großen Frontfrauen der Hippie-Ära. Mit ihrer ungewöhnlich tiefen Stimme ahmte sie das traditionell durch und durch männliche Rockinstrument, die elektrische Gitarre, nach. Außerdem schrieb sie mit White Rabbit (1967) einen der prägenden Momente des Acidrock.

In der Popwelt war Carole King eine der bedeutendsten und einflussreichsten Figuren der 60er Jahre. Ihr wurde die perfekte Stimme in die Wiege gelegt und mit vier Jahren begann sie, das Klavierspielen zu lernen. Mit ihrem Songwritingpartner und Ehemann Gerry Goffin schrieb sie einige der größten Pop- und Girlgrouphits dieser Zeit – darunter z.B. The Loco-Motion, It Might As Well Rain Until September und Will You Love Me Tomorrow. Damit war sie die erfolgreichste weibliche Songwriterin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1955 und 1999 war King an 118 Billboard-Hits und 61 UK-Charthits als Songschreiberin beteiligt.

Gospel meets Pop

Und die Hits, die sie für andere schrieb, von Up On the Roof für The Drifters bis zu dem in jeder Hinsicht unvergleichlichen (You Make Me Feel Like) A Natural Woman für Aretha Franklin, waren noch nicht das Ende vom Lied. Ab den 70er Jahren feierte sie selbst Erfolge als Performerin und ihr zeitloses Album Tapestry hält bis heute den Rekord als die Platte mit den meisten aufeinanderfolgenden Wochen auf Platz 1 der US-Charts (es hielt sich dort 15 Wochen). Das Album enthielt den Megaerfolg (You Make Me Feel Like A) Natural Woman, den King und Goffin für die Ausnahmekünstlerin Aretha Franklin geschrieben hatten. Mit ihrer kraftvollen Stimme holte Franklin die Power der Gospelmusik, mit der sie aufgewachsen war (Mahalia Jackson war sogar eine Freundin der Familie) in die Popmusik. Als Carol King 2015 vom Kennedy Center geehrt wurde, war der Auftritt von Aretha Franklin im Pelzmantel das absolute Highlight. Natürlich spielte sie Natural Woman.

Vom Powerpaar zur Solo-Ikone

Einen ganz anderen Weg – durch Kaugummi-Pop zu einer erfolgreichen Solokarriere – ging Cher. Zunächst sang sie Backing Vocals auf Phil-Spector-Hits, wie zum Beispiel Be My Baby und You’ve Lost That Lovin’ Feelin'. Dann feierte sie Erfolge mit ihrem Ehemann Sonny Bono und ihrem gemeinsamen, verträumten Blumenkinder-Liebeslied I Got You Babe. Das Powerpaar der Hippie-Ära wurde dem schönen Schein im echten Leben allerdings nicht gerecht und der kontrollsüchtige Bono bremste Chers Karriere jahrelang absichtlich aus. Nicht umsonst war Chers erste US-No. 1 als Solokünstlerin, Gypsys, Tramps And Thieves, ohne ihn produziert worden.

1974 beantragte Bono aufgrund “unüberwindbarer Differenzen” die Trennung. Cher konterte mit einer Scheidungsklage aufgrund “unfreiwilliger Dienstbarkeit” und gab an, dass Bono ihr ihre Einnahmen über Jahre vorenthalten hatte. Cher ist in vielen Musikstilen zu Hause, von Rock und Pop, bis Disco und Dance. Zu ihren Highlights zählt zum Beispiel das Video zu der Powerballade If I Could Turn Back Time von 1989, in dem sie auf einer Kanone reitet und welches aufgrund ihres extravaganten Outfits von MTV und anderen Kanälen nicht gezeigt wurde. Ihr Vocoder-Trance Hit Believe von 1998 ist der meistverkaufte Hit einer Künstlerin in Großbritannien. In der jüngeren Vergangenheit war sie auch in den sozialen Medien sehr erfolgreich unterwegs, vor allem als sie sich die Donald Trumps dieser Welt zur Brust nahm; und zwar mit Großbuchstaben!

Gegen die Geschlechterrollen

Und wo wir gerade bei Rockladies in Lederklamotten sind, setzen wir doch direkt mit einer Hommage an ein absolutes Original fort: Suzi Quatro hat traditionelle Grenzen der Geschlechterrollen in der Musik niedergerissen und war die erste berühmte weibliche Rockbassistin. Sie präsentierte sich selbstbewusst als Tomboy und machte so unterschwellig auf die allgegenwärtige Doppelmoral aufmerksam. Sie ärgerte sich darüber, dass US-amerikanische Plattenfirmen sie zur nächsten Janis Joplin machen wollten und so zog sie 1971 nach Großbritannien und suchte den Erfolg mit dem Produzenten Mickie Most, der ihr vorgeschlagen hatte “nach England zu gehen und sie zur allerersten Suzi Quatro zu machen”. Quatro war keine Marionette. Die Wildheit und Entschlossenheit, mit der sie sich die maskulinen Glam- und Hardrock-Sounds dieser Zeit zu eigen machte und dabei mit millionenfach verkauften Songs wie Can The Can, 48 Crash und Devil Gate Drive headbangend auf der Bühne stand, zeigt, dass sie ein echtes Original ist. In ihrer Heimat erfuhr sie später als Rockerin Leather Tuscadero in der Sitcom Happy Days breitere Anerkennung.

Zusammen mit der ebenfalls lederbegeisterten Runaways-Gitarristin Joan Jett und der vom Beatnik inspirierten Protopunk-Poetin Patti Smith öffnete Quatro die Tür für Frauen im Punkrock. Durch diese Tür ging zum Beispiel Chrissie Hynde aus Akron, Ohio, die auch für den Erfolg nach Großbritannien gezogen war, sowie die unvergleichliche Poly Styrene und Bands wie die Slits und die Raincoats, die den DIY-Gedanken des Punk als Chance begriffen, sich ihren Platz in der Musikwelt zu sichern. Jemand, der den kurzen Energieschub der Szene und viele ihrer männlichen Gallionsfiguren überdauerte, war Siouxsie Sioux – zuerst Anführerin der Sex-Pistols-Fancrew Bromley Contingent und dann selbst eine Ikone als Frontfrau der Banshees, deren düsterer Glam neue Pfade im Postpunk und Goth ausleuchtete.

Die Macht der Divas

Aber rau und hart war nicht die einzige Gangart der 70er; man konnte auch den Weg der Diva einschlagen. Der Erfolg von Diana Ross mit den Supremes wird zwar üblicherweise nicht als Beispiel schwesterlicher Solidarität hochgehalten, aber ihre unübersehbare Strahlkraft als Schwarze Frau in der Welt von Motown, Pop und Disco war zweifellos ein Durchbruch und eine Inspiration für viele Frauen, die nach ihr kamen. Mit 70 Hitsingles und 18 No. 1-Hits ist sie weiterhin die einzige Künstlerin, die sowohl solo, als auch als Teil eines Duos, eines Trios und einer Gruppe die Spitze der Charts erreicht hat. Das Billboard Magazin kürte sie 1976 zur “Künstlerin des Jahrhunderts”.

Auch Barbra Streisand legte die Latte sehr hoch: Ursprünglich wollte sie als Schauspielerin Karriere machen und quasi als Bonus singen lernen. Aber als sie an einem Gesangswettbewerb in einem Schwulenclub teilnahm, waren die Besitzer so beeindruckt, dass sie sie direkt für mehrere Wochen engagierten. So begann ihre Musikkarriere. Schon früh integrierte sie Comedy und theatralische Elemente in ihre Shows. Der renommierte Theaterkritiker Leonard Harris war begeistert und schrieb: “Sie ist 20. Wenn sie 30 ist, wird sie vermutlich reihenweise neue Rekorde aufgestellt haben.” Und da lag er richtig: Streisand hat Millionen von Platten verkauft und auch an den Konzertkassen Rekordzahlen erzielt. Sie ist die einzige Künstlerin, die in sechs Jahrzehnten No. 1-Alben hatte.

Meilensteine im und abseits des Mainstreams

In Großbritannien kam das erste No. 1-Album einer Künstlerin von Kate Bush und hieß Never For Ever. Es ist in mehrerer Hinsicht ein absoluter Meilenstein: Es kam zu einem Zeitpunkt in Bushs Karriere, als sie die Kontrolle übernahm, ihren eigenen Verlag und Managementfirma gründete und auch bei der Produktion ihrer Platten mehr und mehr die Richtung angab. Ab dem Nachfolger The Dreaming hatte Bush das Steuer komplett übernommen und machte für Popmusik absolut außergewöhnliche Experimente – speziell mit der mehr als bahnbrechenden elektronischen Instrumentierung wie zum Beispiel dem Fairlight Sampler.

Bush öffnete Türen für Frauen in der Alternative Szene, aber wir sollten auch die ehren, die den Mainstream erweiterten – so wie Madonna, die Mutter der gebrochenen Rekorde. Sie hatte gerade mal 35 Dollar in der Tasche, als ihr blonder Ehrgeiz ihre Angst besiegte und sie von Michigan nach New York zog. “Es war das erste Mal, dass ich ein Flugzeug bestiegen habe und auch das erste Mal, dass ich ein Taxi nahm.” Sie ist immer noch die bestverkaufte Künstlerin aller Zeiten und gilt bei vielen als eine der einflussreichsten. Ihre Offenheit und unverhüllte Sexualität und ihr unverschämter Erfolg inspirierten Generationen von Frauen. Von ihren Spitze-und-“BOY TOY”-T-Shirt-Tagen bis hin zu den provokanten Bildern in ihrem Buch Sex – Madonna liebte es, die Leute herauszufordern und vor allem deutliche Seitenhiebe in Richtung der katholischen Kirche auszuteilen, mit der sie aufgewachsen war. Sie ist das erste und beste Beispiel in der Popmusik für ein anständiges Mädchen, das vom “rechten Weg” abgekommen ist.

Verkaufsrekorde

Ungefähr zur selben Zeit bahnte sich auch Whitney Houston ihren Weg vom naiven Mädchen zur Göttin. Es hatte fast den Anschein, dass sie schon für Großes geboren war: Dionne Warwick war ihre Cousine, Darlene Love ihre Patentante, und Aretha Franklin eine Tante ehrenhalber. Houstons selbstbetiteltes erstes Album war das bestverkaufte Debüt einer Künstlerin in der Musikgeschichte und sie ist die einzige Frau, die sieben aufeinanderfolgende Billboard No.1-Singles feiern konnte. Trotz der Probleme, mit denen sie später zu kämpfen hatte, war sie eine große Inspiration – nicht nur als Sängerin, sondern auch als Schauspielerin: Insbesondere Waiting To Exhale von 1995 gilt heute noch als eine bedeutende Darstellung Schwarzer Frauen im Kino.

Auch Mariah Carey begann als gutes Mädchen und in der Rolle des Protégés: Entdeckt und gefördert von Manager und Ehemann Tommy Mottola erreichten ihre gänsehautverdächtigen Powerballaden phänomenale Verkaufszahlen. Aber Mariah wollte mehr. Sie ließ sich von Mottola scheiden und übernahm 1995 mit ihrem Album Daydream das Ruder. Ihr Stil hatte jetzt deutliche R&B-Einflüsse und sie arbeitete mit Gastrappern wie Ol’ Dirty Bastard und Jay Z, und samplete Tom Tom Club. “Alle sagten, ‘Bist Du verrückt?’”, erzählte sie damals. “Sie werden nervös, wenn man die erfolgreiche Strategie hinter sich lässt. Wenn ich auf der Bühne eine große Ballade singe und dabei ein Kleid trage und meine Haare schön frisiert sind, dann funktioniert das.” Das Ergebnis waren allerdings größere Erfolge als je zuvor: Mit ihrer unvergleichlichen Single Fantasy wurde sie die erste Künstlerin, die mit einer Single direkt auf Platz 1 der Billboard Top 100 einstieg. Und indem sie ihr sauberes Image als Balladenkönigin ablegte und anfing, ihre Rolle als verspielte Diva zu spielen, wurde sie zu einem der beliebtesten Popstars der Welt und bewies damit, dass sie es besser wusste als alle anderen.

Im Schatten der Männer

Eine weitere Künstlerin, die ihre Karriere im Schatten von Männern begann, war Janet Jackson; und zwar nicht nur der Schatten ihrer extrem berühmten Brüder, sondern auch der ihres dominanten Vaters. Im Alter von sieben Jahren trat sie in den Familienproduktionen auf. Mit ihrem künstlerischen und kommerziellen Durchbruch Control (1986) entfernte sie sich vom Einfluss ihres Vaters und begann mit den Produzenten Jimmy Jam und Terry Lewis an einer tougheren Künstlerpersönlichkeit zu arbeiten. Der unverwüstliche Klassiker Nasty wurde durch die zahlreichen Männer inspiriert, die ihr auf ihrem Weg ins Studio immer wieder hinterherpfiffen und blöde Sprüche klopften. “Ich habe einen Namen, wenn ihr den nicht kennt, dann ruft mir auf der Straße nicht hinterher”, sagte sie. “Control bezog sich nicht nur darauf, dass ich mich um mich selbst kümmere, sondern auch, dass ich in einer viel weniger geschützten Umgebung lebe. Dadurch habe ich ein dickes Fell entwickelt.” Als ihr nächstes Album Rhythm Nation 1814 erschien, hatte sie ihren Vater als Manager entlassen.

Schauen wir in die 90er, wo ein junges Mädchen ihre Vorgängerinnen ganz genau beobachtete. Die Rede ist von Britney Spears, die mit dem Video zu ihrer Platinsingle … Baby One More Time ihren Durchbruch hatte, in dem sie die nicht ganz ernstgemeinte Rolle einer Schülerin an einer katholischen Mädchenschule spielte, die offenbar von unreinen Gedanken heimgesucht wurde. Spears schwieriger Weg vom Teeniestar zur erwachsenen Künstlerin wurde für viele andere weibliche Kinderstars wie Miley Cyrus oder Selena Gomez zu einem Vorbild, dem man folgen oder gegen das man sich wehren konnte. 2008 wurde Britney die erste Künstlerin, deren erste fünf Alben allesamt auf Platz 1 der US-Charts eingestiegen waren und die jüngste Künstlerin mit fünf No. 1-Alben.

Riot Grrrls

Der kommerzielle Durchbruch der Alternative Rock Szene in den 90ern wurde von Frauen wie Kim Gordon von Sonic Youth bis zu Liz Phair angeführt. Letztere beschrieb Madonna einst als Speedboot, welches andere weibliche Musiker auf Jetskis hinter sich her zog. Courtney Love war eine beeindruckend selbstsichere Grunge-Version von Janis Joplin und inspirierte mit ihrer zornigen Stimme und der kompromisslosen Direktheit eine ganze Generation. Riot Grrrls wie Bikini Kill, Babes in Toyland und Sleater-Kinney brachten den politischen Feminismus in ihre Musik – deutlicher und unverschämter als das je zuvor der Fall gewesen war. Und Künstlerinnen wie Tori Amos und Alanis Morissette holten ein Stück dieser Wut in den Mainstream.

In dem offen und stolz ausgelebten Feminismus heutiger Megastars der Popmusik zeigt sich das Erbe dieser Frauen der 90er Jahre, aber bis der Einfluss von Beyoncé wirklich messbar ist, wird es noch eine Weile dauern. Wie bei vielen auf dieser Liste ist auch ihre eine Geschichte zunehmender Kontrolle. Ihre frühen Erfolge mit Destiny’s Child und wegweisenden, cleveren R&B-Pophits wie Jumpin’, Jumpin’, Bills, Bill, Bills, Survivor und Independent Women (Part 1) entstanden quasi unter der Aufsicht ihres Vaters und Managers Matthew Knowles. Aber als dieser die Mitglieder der Band entließ und Beyoncé dafür die öffentliche Wut zu spüren bekam, litt sie unter Depressionen. Matthew blieb auch während ihrer Erfolge als Solokünstlerin, angefangen mit Dangerously In Love (aufgenommen mit ihrem späteren Ehemann Jay Z), ihr Manager. 2010 zog sich Beyoncé auf Anraten ihrer Mutter zwischenzeitlich aus dem Rampenlicht zurück und 2011 trennte sie sich von ihrem Vater als Manager.

Mainstream-Pop wird politisch

Ab diesem Zeitpunkt wurde es wirklich interessant: Die erste Single von ihrem Album 4 war das toughe, von Baile-Funk beeinflusste Run The World (Girls) – ein Motto, das Beyoncé für sich selbst mehr und mehr umsetzte. Die unerwartete Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Albums und des dazugehörigen Films im Jahr 2013 waren eine deutliche Veränderung in ihrem Output – mit ehrlichen und bildreichen Texten, düsterer und unkonventioneller Produktion zeigte sie mehr von ihren Gedanken als je zuvor. Das gewaltige Lemonade beseitigte auch die letzten Zweifel und nahm sich nicht nur untreue Ehemänner vor, sondern mit dem mitreißenden Track Formation auch den systemischen Rassismus. Stolz macht sie sich für Feminismus und die "Black Lives Matter"-Bewegung stark und zusammen mit der neuen, ungewohnten Produktion ist das eine Riesenveränderung. Neben Beyoncé und vielen anderen bekannten Gesichtern nahm auch Rihanna an dem beeindruckenden "Black Lives Matter"-Video teil. Auch sie ist eine Künstlerin, die immer wieder unsichtbare Grenzen und Erwartungen an Mainstreamstars sprengt. Songs wie American Oxygen und ihr düsteres, ehrliches Album Anti sind weit entfernt von der 17-jährigen Barbadierin mit dem süßen Lächeln, die 2005 mit dem Album Music Of The Sun antrat.

Finanzieller Erfolg

Und um die Frauenpower noch ein Stück weiter auf die Spitze zu treiben, sind Beyoncé und Rihanna auch ununterbrochen unter den bestverdienenden Musiker*innen der letzten Jahre. Das gilt auch für Katy Perry – wie Carole King eine Songwriterin, die ihren eigenen Platz auf der Bühne besetzte. Mit ihrem Lollipop-Image verströmt sie eine prinzessinenhafte Kaugummiversion von Weiblichkeit und veröffentlicht eine Frauenpowerhymne nach der anderen.

Perrys Kollegin und ebenfalls eine Vertreterin von Pop Grotesque ist natürlich Lady Gaga. Sie ist die ultimative, selbsterschaffene Kultfigur und entsprang ihrem eigenen, seltsamen Hirn. Von Anfang an präsentierte sie sich der Öffentlichkeit als fertiger Star, mit der Hitsingle Paparazzi und dem Album The Fame. Und ihre eigene Legende zu schreiben, war ein Schachzug, der funktionierte: Heute ist sie eine der meistverkauften Künstlerinnen aller Zeiten und stolze Besitzerin von sechs Grammys und drei Brit Awards. Diesen Erfolg nutzt sie als Plattform, um sich für die Rechte anderer stark zu machen. Bei der Oscarverleihung sprach sie offen über ihre Vergewaltigung im Alter von 19 Jahren und spielte ihren Song Til It Happens To You, der sich mit diesem Thema beschäftigt, umgeben von einer Gruppe Überlebender sexueller Übergriffe.

Solidärität unter Frauen

Es gab Zeiten, da hatte an der Spitze nicht mehr als eine Frau Platz. Umso schöner ist es zu sehen, dass die Solidarität zwischen Künstlerinnen immer wichtiger wird. Taylor Swift zum Beispiel, der wir einige der unwiderstehlichsten Popsongs zu verdanken haben und die Rekorde bricht, sobald sie den Mund aufmacht, ist quasi unter den Augen der Öffentlichkeit zum Feminismus konvertiert und tritt in einer Art und Weise für ihre Freundinnen ein, die völlig gegen die Tendenz der Medien geht, weibliche Stars gegeneinander auszuspielen.

Eine dieser Freundinnen ist Lorde, die David Bowie persönlich als “the future of music” gefeiert hat. Als sie sich noch vor Veröffentlichung ihres zweiten Albums Melodrama von ihrem Manager Scott MacLachlan trennte, meinten einige hinter vorgehaltener Hand, dass das womöglich keine so kluge Entscheidung war. “Liebe Männer”, twitterte sie daraufhin, “tut mir und Euch einen Gefallen und unterschätzt nicht meine Fähigkeiten.” Diese Zukunft scheint also in sicheren Händen zu sein.

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