Gerade 15 war Stevie Wonder und sollte schon sein Little Stevie-Label loswerden. Verniedlichungen passen eben nicht mehr zum Leben nach dem Stimmbruch. Die zarte Stimme des Kindersängers, der mit elf Jahren von dem Motown-Label Tamla gegen eine Bezahlung von $ 2.50 pro Woche unter Vertrag genommen worden war, kam um eine Oktave gesunken beim Publikum nicht mehr gut an. Stevies erster und bis dato letzter Billboard-Hit Fingertips sowie ein gleichnamiger Song auf der B-Seite des Albums war drei Jahre her. Zeit also, sich neu zu erfinden!
Dem jungen Mann machten die Label-Diskussionen über seine Verwertung nichts aus, er arbeitete einfach wie ein Besessener weiter an Songs, trat in Filmen auf und lernte neue Instrumente zu spielen. Im Jahr 1966 kam endlich das Album Up-Tight und damit der große Durchbruch. Und das, obwohl das Album lose übersetzt etwa “Stock im A****” heißt. Ganz schön gewagt. Den gleichnamigen großen Hit des Albums schrieb Stevie Wonder gemeinsam mit seinem Mentor Henry Cosby und Sylvia Moy, die sich an den Entstehungsprozess des Songs erinnert: “Ich hatte einen ganzen Sack voller Songs, sagte Stevie aber: ‘Spiel du erst mal, was du hast, jede noch so kleine Idee.’ Er spielte mir alles vor und sagte: ‘So, das ist alles.’ Ich fragte ihn: ‘Bist du sicher? Hast du nicht noch irgendetwas?’ Er sagte: ‘Nicht wirklich, naja, ich habe vielleicht noch eine Idee.’ Er fing an zu singen und zu spielen: Everything is alright, uptight, mehr als die eine Zeile hatte er nicht.
Ich sagte zu ihm: ‘Das ist es, damit arbeiten wir!’” Der Song sollte zum großen Hit werden und das lag mit Sicherheit nicht nur an der eingängigen Melodie, sondern auch am guten Text. Noch grün hinter den Ohren singt Wonder schon in vollendetem Understatement davon, wie er andere Männer im Kampf um das tollste Girl aussticht:
I'm a poorman's son, from across the railroad tracks,
The only shirt I own is hangin' on my back,
But I'm the envy of ev'ry single guy
Since I'm the apple of my girl's eye.
Das Mädchen muss wirklich auf innere Werte geachtet haben. Und was hatte Wonder so anzubieten? “[…] my heart is true.” Sie so: “She says no one is better than I” Und er so: “I know I'm just an average guy / No football hero or smooth Don Juan.” Sind die süß! Der Song hatte – egal ob man reich, arm, gutaussehend oder verlottert war – eine gewinnende Botschaft. Der mittellose Mann, der mit leeren Händen trotzdem die schönste Frau erobert. Das gefiel den Leuten.
Ein anderer großer Wurf auf dem Album Up-Tight ist Wonders Coverversion von Bob Dylans Blowin’ In The Wind, dem er den perfekten Motown-Style verpasst und ihn singt wie einen Gospel. Noch mehr als bei Up-Tight zeigt sich Wonders Talent bei dieser Interpretation: sein ganzes musikalisches Erbe und seine Inspiration – die Call and Response-Methode aus dem Blues, der Rhythmus aus dem Gospel, Beat und Backgroundgesang des Motownsounds – alles dabei. Im Vorfeld soll es viel Kritik an der Inklusion des Covers auf dem Album gegeben haben, doch Wonder hielt nicht damit hinterm Berg, dass er sich nicht auf Motown festlegen ließ und seine Inspiration in so ziemlich jedem Genre fand. Blowin’ In The Wind sollte auch zum Ausdruck bringen, dass Wonder als Künstler gewachsen war und nicht nur über Mädchen und Liebe singen wollte, sondern auch über politische und gesellschaftsrelevante Themen.
Der Autor Rochelle Larkin erinnert sich an einen Auftritt Stevie Wonders, bei dem er Bob Dylans Song vortrug: “Vor der Tür war ein gigantisches Footballfeld, der Raum hatte eine fürchterliche Akustik und es war kalt und regnerisch. Nach der ersten Konzerthälfte wünschten selbst die Promoter, sie wären zu Hause geblieben. Dann kam Stevie Wonder und sang Blowin’ In The Wind, als wäre der Song noch nie gesungen worden. Und plötzlich war er nicht mehr “Little” Stevie Wonder. Er, der als Kinderunterhalter durchgegangen war, riss die Leute vom Hocker. Er war kein kleiner Junge mehr, sondern nun ein Mann.”
Up-Tight wurde am 4. Mai 1966 veröffentlicht und feiert dieses Jahr seinen 50. Geburtstag! Sein Urheber denkt noch lange nicht ans Aufhören. Stattdessen wird er ständig zu den Trauerfeiern anderer großer Künstler berufen, zuletzt zu Michael Jackson, Etta James und Whitney Houston. Hoffentlich bleiben dem 65-Jährigen noch ein paar gute Jahre. Die 25 Grammys könnten was mit seiner guten Gesundheit zu tun haben.