Featured Image
Foto: Charlotte Patmore

„Vicious Creature“: Das Pop-Glaubensbekenntnis der Lauren Mayberry

Ohne ihre Band CHVRCHES findet Lauren Mayberry wie von selbst zu ihren ahnungsvollen Popwurzeln zurück. Vicious Creature ist ein wundervolles Pop-Album voller Pathos, dunkler Ecken und Millennium-Glitter.

Gute zehn Jahre führt Lauren Mayberry jetzt schon das schottische Synth-Pop-Trio CHVRCHES an. Vier Alben, große Tourneen und Festivals, Lob von Robert Smith… Eigentlich hatte die Sängerin alles. Und doch irgendwie nichts. Über ein Jahrzehnt lang war sie als Frau in einer männerdominierten Branche auf sich allein gestellt und der allgegenwärtigen Kultur der Frauenfeindlichkeit ausgeliefert. „Die einzige Frau in so vielen Bands zu sein, war die meiste Zeit eine sehr einsame Erfahrung“, sagte sie erst kürzlich.

Ihr Solodebüt Vicious Creature ist ihr Versuch, diese Erfahrungen zu verarbeiten. Vielleicht sogar in etwas Stärkendes zu wandeln. Für die Schottin ist dieses Album dazu da, sich selbst zu ermächtigen, auf ihre Intuition zu hören. Es ist auch dazu da, um herauszufinden, wer sie ohne CHVRCHES eigentlich ist. Das kostete entsprechend viel Zeit. Erstmals sprach sie 2018 über ein Soloalbum, dann kam Covid, dann doch noch eine CHVRCHES-Platte.

Jetzt, im langsam ausblutenden Jahr 2024, ist es aber endlich so weit. Vicious Creature ist der ungefilterte Blick in ihr Seelenleben, eine Reise zurück zu ihren musikalischen Wurzeln. Denn obwohl Mayberry bei CHVRCHES gern zum Goth-Vamp stilisiert wurde, ist sie im Herzen ein Pop-Girl. In Sorry, Etc. erzählt sie davon, während ein schroffer Bass rumort und die Drums nervös krachen. Wie sie ihre Pop-Vorliebe verleugnen musste, um vom Boys Club akzeptiert zu werden, für den nur „Fugazi B-Seiten“ von Bedeutung waren. „Ich habe mir auf die Zunge gebissen, um einer der Jungs zu sein, ich habe meine Seele verkauft, um einer der Jungs zu sein“, singt sie energisch. Und man merkt, dass da wohl einiges rausmusste.

Ein trauriger Roboter

Das Album ist voller Bekenntnisse wie diesen, was es auf gewisse Weise schonungsloser und drastischer als alles macht, was sie mit CHVRCHES veröffentlicht hat. Aber eben auch deutlich poppiger. Sie verzerrt Synthies, lässt Beats hüpfen, zitiert Millenium-Pop ebenso wie Achtziger-Glitter und singt wie ein „trauriger Roboter“, wie sie kürzlich mal selbst über sich gesagt hat. Wer sich eine Mischung aus Fatboy Slim, All Saints, Kate Bush und Avril Lavigne vorstellen kann, ist da eigentlich schon in die richtige Richtung unterwegs.

Vielleicht mag das gotisch wallende Melodrama ihrer Band anfangs fehlen, immerhin hat man ihre Stimme längst mit diesen mystischen großen Synth-Pop-Spinnweben assoziiert. Doch Vicious Creature hat seinen ganz eigenen Charme, einen fast schon naiven Charme, der ebenfalls ausgezeichnet zu ihr passt. Man spürt förmlich, wie gut es ihr tut, zur Abwechslung mal genau die Musik spielen zu können, die ihr am nächsten ist.

Jetzt im Circle Store:

Und irgendwie ist es ja vielleicht doch kein Zufall, dass dieses Album so lange auf sich warten ließ: 2024 markierte den endgültigen Siegeszug des Mainstream-Pop als Kulturphänomen. Die Eras-Tour geht zu Ende, der Brat-Sommer liegt hinter uns und mit Sabrina Carpenter gibt es eine erste junge Sängerin, die es tatsächlich mit Taylor Swift aufnehmen kann. Von all diesen Höhen ist Mayberry weit entfernt. Auch ihr Album zeigt aber eben, dass es längst nicht mehr nur die nuschelnden Pulli-Liedermacher oder Indie-Elegiker profunde Themen verhandeln können; sondern auch ganz „normale“ Pop-Artists.

Vom hymnischen Opener Something In The Air über das wavige Crocodile Tears bis hin zu den langen Schatten von Mantra reicht ein bei aller Poppigkeit gehörig breites Spektrum, das eindrucksvoll aufzeigt, wie viel Lauren Mayberry noch zu sagen hat. Und wie viel früher man ihr hätte zuhören sollen.

Weiter stöbern im Circle Mag: