Es ist ja nicht so, als würden wir ein wenig Nostalgie, verschwommene Erinnerungen an bessere Zeiten und etwas unschuldige Leichtigkeit derzeit nicht brauchen können — und auch die Plattenindustrie freut sich, wenn es neben Adele und Ed Sheeran mal wieder was gibt, was sich ordentlich verkauft.
von Markus Brandstetter
Hier sind wir also, inmitten dieser Pandemie, die sich zwar alle ein wenig anders erklären, die aber niemand besonders lustig und angenehm findet – und halten nach fast vierzig Jahren wieder ein Album von Benny, Björn, Agnetha und Anni-Frid in den Händen.
Hier könnt ihr Voyage hören:
Wir erinnern uns: In den 1970er- und 1980er-Jahren etablierten ABBA Schweden als Pop-Land und fuhren, damals noch als Ehepaar-Konstellation, einen Hit nach dem anderen ein. Es endete mit keinem Knall, es endete ja nicht einmal offiziell. Vor allem Benny Andersson und Björn Ulvaeus, die musikalischen Masterminds, blieben aktiv und führten ihre Zusammenarbeit fort. Dies inkludierte das Schreiben von Musicals und andere Projekte und Bands gleichermaßen wie Denkmalpflege fürs eigene Erbe. Und an diesem Denkmal, so hieß es lange Zeit, wolle man nicht rütteln.
Reunions? Niemals, hieß es damals. Vermeintliche Milliarden-Angebote wurden abgelehnt, Gerüchte um eine Wiedervereinigung im Keim erstickt. Dafür wurde irgendwann bekannt, dass es eine Hologramm-Show geben würde. Das trifft sich gut: Schließlich müsse man selbst nicht erscheinen, kann die Hologramme die Tantiemen einfahren lassen und geht nebenbei, so Andersson, „mit dem Hund spazieren.“
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Die Sache mit der Denkmalpflege
Jetzt also doch: Man traf anlässlich der Hologramm- beziehungsweise Avatar-Shows in Viererbesetzung zusammen, man nahm zwei Songs auf, zum Spaß, quasi. Warum jetzt doch? Man habe es noch einmal machen wollen, solang man hier sei. Fair enough. Apropos Denkmalpflege, kommen wir doch gleich zum Beginn dieser Rezension zum Fazit: Hat man dem Erbe ABBAs mit Voyage etwas Wesentliches beifügen können? Nein, nicht wirklich. Hat man sein eigenes Denkmal demontiert? Nein — und die kategorische Ablehnung einer Tour (abseits von Hologramm-Klimbim) verhindert das zusätzlich.
Das „Wetten, dass..?“ der Musik-Comebacks
Voyage ist ein prinzipiell gutes Album. Und auch wenn man mancherorts liest, es sei nicht zeitlos (so, wie es ABBA gerne gehabt hätten), sondern irgendwie unzeitgemäß: Im Grunde trifft beides zu gleichen Teilen zu. ABBA liefern imposante Balladen, große, nostalgische Gefühle an früher, Disco-Beats, den vertrauten Sound, ganz Orchestrales (Ode To Freedom). Sie wollen das musikalische Äquivalent zur Samstagabend-Show sein: Für alle da. Klar, die Kinder waren noch lange nicht geboren, als das Quartett erstmals auf der Bildfläche auftauchte. Aber mittlerweile hat’s dank der medialen Präsenz auch wirklich jeder mitbekommen, dass jetzt, einen Monat vor Weihnachten, Retro-Time angesagt ist!
Die Weihnachtszeit lassen ABBA im Stück Little Things ordentlich aufleben. Da ist die Rede von Weihnachtsstrümpfen, die mit schönen Geschenken gefüllt sind, dazu ertönt Musik, die so klingt, als wäre sie aus einem Werbespot für Weihnachten entnommen. Zuckersüß, nett und natürlich sehr, sehr kitschig. Der Track davor, When You Dance With Me, zeigt ebenfalls, dass der Kitsch nicht unser Gegner ist — nur eben mit (sehr synthetischen) irischen Pipes, oder zumindest etwas sehr ähnlichem.
Fast alles beim Alten
Es ist auf Voyage in puncto Songs einfach alles beim Alten — davon, dass die hochaktiven Herren Andersson und Ulvaeus aus der Übung wären, ging wohl auch niemand ernsthaft aus. Apropos von etwas ausgehen: Dass Agnetha und Anni-Frid noch genau so klingen würden wie früher, stand auch auf der realistischen Liste der Erwartungen an das Comeback nicht ganz oben. Wie ihre Kollegen Ulvaeus und Andersson in einem Interview andeuteten, wären mittlerweile eher tiefere Tonarten angesagt. Das ist auch ganz normal: Stimmen altern eben und werden tiefer, hohe Passagen gehen nicht mehr so locker von der Hand. Manchmal ist das mehr, manchmal weniger hörbar.
Es scheint, als gäbe es bezüglich Voyage zwei Meinungen: Die einen sagen, es wäre großartig und es klinge so, als wären diese vier Dekaden, die zwischen dem letzten Album The Visitors und Voyage liegen, nie vergangen. Andere, wie der Guardian, halten das Album für eine Katastrophe. Irgendwie liegt die Wahrheit in den Augen des Autors dieser Zeilen irgendwo dazwischen. Bei aller Freude darüber, wieder etwas Neues von ABBA zu hören: Die Stücke können wahrscheinlich nicht mit den großen Hits der Band mithalten (müssen sie aber auch gar nicht) und manche Stücke wären in den besten Zeiten der Band wohl eher B-Seiten-Material gewesen.
Hätte es auch gereicht, wenn ABBA nur die zwei Singles veröffentlicht hätten? Wahrscheinlich schon. Ist es eine gute Idee, dass ABBA nie wieder touren wollen? Ja, mit ziemlicher Sicherheit. Macht Voyage trotzdem Spaß? Ja, wenn man die Erwartungen nicht unnötig hoch schraubt, dann tut es das durchaus.
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