Es gibt unzählige legendäre, wichtige und wegweisende Konzerte. Keines kommt in seiner popkulturellen Relevanz auch nur annähernd an das aufrührerische Gastspiel der notorisch chaotischen Sex Pistols am 4. Juni 1976 in Manchester ran. Fragt nur mal Peter Hook, den Gründer von Joy Division...
von Björn Springorum
Manchester und Musik, das geht nur zusammen. Von den Hollies über Joy Division und The Smiths bis hin zu Oasis originierte fast jede britische Ikone in der nordenglischen Stadt. Bücher wurden gefüllt, Münder fusselig geredet. Und noch immer kann man nur an der Oberfläche der Bedeutsamkeit kratzen.
Hört hier in das Einmaleins von Joy Division rein:
Für die ganzen Songs klickt auf "Listen".
Ein ganz besonderer Ort inmitten dieses reichen Erbes ist die Free Trade Hall, heute übrigens ein Hotel. Und unter der Vielzahl an bedeutsamen Konzerten steht der Auftritt einer ganz bestimmten Band in Manchester über allen. Es war ein Auftritt, der die Zeit anhielt und die Welt veränderte. Ein Auftritt, der ganz unfreiwillig für die Gründung von Joy Division sorgte. Unter anderem.
No future!
Schuld daran sind, natürlich, die Sex Pistols. Die sind 1976 gerade dabei, den desillusionierten englischen Kids eine Stimme zu geben. Sie brüllen an gegen die Politik, das System, das im Todeskampf liegende Empire, ganz allgemein das gesamte verfluchte Establishment. „No future!“, das ist damals leider deutlich mehr als ein griffiger Slogan. Es ist Alltag auf den Straßen und in den Arbeitsämtern.
Sex Pistols live in Manchester 1976:
Die Sex Pistols können daran auch nichts ändern. Aber sie treten einer ganzen Generation mit „filth and fury“ in den Arsch. Das zieht auch am 4. Juni 1976 einige verbitterte junge Menschen in die Lesser Free Trade Hall, um diesen unangepassten Herolden der Anarchie zu lauschen. Viele sind es nicht, die in die Halle mit ihrem Fassungsvermögen von 150 strömten. 43, sagen die meisten. Doch die Gästeliste dieses Abends könnte exklusiver und musikhistorisch relevanter kaum sein.
Das Konzert, das die Welt verändert
Und nicht nur das: Die Menschen, die als Arbeiter auf dieses (bestuhlte!) Konzert gehen, verlassen es als Musiker. Das gilt für Steven Patrick Morrissey, der einige Jahre später The Smiths gründet. Auch die Geburt von Magazine oder The Fall geht mehr oder weniger direkt auf diesen Gig zurück. Am ehesten ist die Schockwelle der Dissidenz jedoch bei Bernard Sumner, Terry Mason und Peter Hook von Joy Division zu spüren. Sie haben noch keine Band, sehen diese infernalische Show – und gehen als andere Menschen nach Hause. „John Lydon beschimpfte das Publikum, der Sound war scheußlich, sie stolperten nur auf die Bühne herum und lachten uns aus“, erinnert sich Peter Hook viele Jahre später in den Manchester Evening News. „Ich dachte mir: Das kannst du auch!“
Schon am nächsten Tag lieh sich Hook 35 Pfund von seiner Mutter und kaufte sich einen Bass. Sumner besorgte sich eine Gitarre, Terry Mason ein Schlagzeug. Fehlte nur noch ein Sänger. Diesen Posten sollte eigentlich Martin Gresty übernehmen, der sich aber lieber in einer Fabrik verdingen wollte. Arbeiterklasse galore. Als sich der unbekannte Ian Curtis auf eine Anzeige in einem Manchester Plattenladen meldete, wurde er ohne Vorsingen Teil der Band. „So war das damals: Wenn wir jemanden mochten, war er dabei“, wird Sumner später in „Touching from a Distance“ zitiert, der Joy-Division-Biografie von Deborah Curtis.
Joy Division New Dawn Fades:
Bis auf dieses Konzert und eine gewisse Kompromisslosigkeit haben sich Joy Division eine weitere Tugend bei den Sex Pistols abgeschaut – die Entmystifizierung der Musik. Damit auch Menschen wie Hook Zugang zu ihr fanden. Die Sex Pistols erfanden mal so eben den Punk, schafften die Rockstars ab und brachten die nächste Generation wegweisender Bands binnen weniger Monate und einiger katastrophaler Auftritte ins Rollen. Als Joy Division 1979 mit Unknown Pleasures debütierten, waren die Pistols schon wieder Geschichte. Wahrscheinlich hat es sie aber eh einen Dreck interessiert, wer an diesem Abend da war oder was danach passierte. No future eben…
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