Punk gab es vor und nach den Sex Pistols. Das, was wir heute unter dieser Musik verstehen, geht aber zu einem Großteil auf John „Johnny Rotten“ Lydons Konto. Mit den Sex Pistols prägte er das Genre wie kein zweiter – und zerstörte es kurz darauf wieder.
Der Umsturz der Gesellschaft dauert drei Minuten und 31 Sekunden. Länger brauchen die Sex Pistols nicht, um mit ihrer allerersten Single Anarchy In The UK genau das zu erreichen. Ein Flächenbrand, eine Revolution, eine subversive Explosion, irgendwas in der Art. Veröffentlicht an einem bestimmt verregneten 26. November 1976 zwischen IRA-Terror, hoher Jugendarbeitslosigkeit, Streiks und einer echt miesen wirtschaftlichen Stimmung, gibt dieser Song jenen eine Stimme, die keine haben. Und das sind sehr, sehr viele.
Schon in den Monaten zuvor haben sich die Sex Pistols einen berüchtigten Ruf als notorische Störenfriede, als Aufrührer, als antisoziales Element aufgebaut und fleißig kultiviert. Auftritte enden im Chaos, die Bandmitglieder schimpfen mehr als dass sie sprechen, es wird getrunken, Dinge gehen zu Bruch. An vorderster Front der Obszönitäten: John Lydon, ein junger Mann aus der Arbeiterklasse, der sich bald nach seinem Einstieg bei den Sex Pistols in Johnny Rotten umbenennt. Lydon ist der Archetyp des Punk, wie ihn die Medien wenig später zum Staatsfeind deklarieren: Von der Schule geflogen, großmäulig, perspektivlos, ungepflegt, gefärbte Haare und ein von Sicherheitsnadeln zusammengehaltenes Pink-Floyd-Shirt, auf dem er über den Schriftzug die Worte „I Hate“ dazu kritzelte.
Rotten kam zu den Sex Pistols, weil keine Geringere als Vivienne Westwood ihn empfahl. Und jetzt kommt's: Eigentlich meinte Westwood einen gewissen John Simon Ritchie, der später als Sid Vicious seinen Weg zu der Band fand. Die noch namenlose Gruppe ging jedoch davon aus, Westwood meine John Lydon, was hinter seine gesamte Rolle bei den Sex Pistols durchaus ein Fragezeichen stellt.
Das Ende des Rock‘n‘Roll
Lydon, der gerüchteweise wegen seiner furchtbar schlechten Zähne in Johnny Rotten umgetauft wird, weiß ganz genau, was er mit den Sex Pistols will: Weniger Musik, mehr Chaos. Das bringt ihnen binnen weniger Monate eine gewisse Reputation an, die mit einem legendären Auftritt in Manchester einen Punk-Boom in Großbritannien triggert. Schon kurz darauf geben Bands wie The Clash oder The Damned ihre ersten Auftritte im Vorprogramm der Pistols, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal eine Single veröffentlicht haben. Ganz im Gegensatz zu den Ramones, die schon im Frühjahr 1976 mit ihrem Debüt um die Ecke biegen. Lydon hat gewohnt gute Worte für seine Kollegen übrig: „Mit ihren langen Haaren haben die mich überhaupt nicht interessiert“, wird er später in der Biografie Rotten zitiert. „Ich mochte ihr Image nicht und konnte nicht leiden, wofür sie standen.“
Lydon geht es um etwas anderes. Um sich, aber auch um etwas Radikales, das ihm einerseits eine huldigende Anhängerschaft aus Verlorenen und Vergessenen einbringt, andererseits dem Staat und der Autorität ein Dorn im Fleisch ist: Er will nicht nur die Gesellschaft ins Chaos stürzen, er will den Rock‘n‘Roll um die Ecke bringen. Inspiriert von Vivienne Westwoods Ansichten und dem in ihrer Boutique „Sex“ präsentierten Style, kanalisiert Lydon den Zorn der gesamten Gesellschaft mehr und mehr in Eigenkompositionen. Die erste Single, das erwähnte Anarchy In The UK, erschieint beim Major EMI und klettert in die Top 40 der UK-Charts. EMI nimmt die Band für zwei Jahre unter Vertrag, schmeißt sie aber schon im Januar 1977 wieder raus. Der Grund: Die Band fluchte! Im Live-TV!
Da geht sogar die Hakenkreuz-Armbinde unter. Die Überschrift des Daily Mirror („The Filth And The Fury“) ist längst ikonisch und auch der Titel einer Dokumentation über die Band.
Vom Punk zum Posterboy
Die Sex Pistols profitieren natürlich gewaltig davon und bringen den Punk mit voller Kraft in die Aufmerksamkeit des Mainstream. Was sie damals noch nicht wissen, ist dass sie – und insbesondere Lydon – gleichzeitig damit beginnen, sein Grab zu schaufeln. Punk geht in Großbritannien durch die Decke, von den 20 Konzerten einer angesetzten Sex-Pistols-Tour können gerade mal sieben stattfinden. Lydon wollte mit so viel Exzess und Radikalität wie möglich einen Schlussstrich unter die Musik ziehen. Und wird zu ihrem größten Antihelden. Es gibt Demonstrationen gegen die Band, offene Drohungen und Hassbriefe. Lydon genießt das alles sichtlich, er ist längst der Posterboy dieser kataklysmischen Zeit. Nach Ansicht nicht weniger steigt ihm die ganze Sache allerdings auch zu Kopf. Basser Glen Matlock wird aus der Band geworfen, weil er angeblich die Beatles mag (was sich später aber als Ente herausstellt), und durch den exzessiven Sid Vicious ersetzt, der zuvor bei Siouxsie And The Banshees trommelte.
Die Sex Pistols 1977Doch darum kümmert sich jetzt niemand mehr. Mit Vicious kommt noch mehr Destruktivität in die Band, es gibt Tumulte, Exzesse – und dann die Single God Save The Queen. Dass die BBC dieses aufrührerische Stück Musik nicht spielt, ist ja noch verständlich; dass jedes Independent-Radio ebenfalls davor zurückschreckt, eher weniger. Lydon sagte laut George Gimarcs Punk Diary einfach: „Wir sind die einzige ehrliche Band, die es jemals auf diesem Planeten gab.“
Wie so oft, geraten die Dinge außer Kontrolle. Lydon und andere Punks werden verfolgt, angegriffen, zusammengeschlagen oder in Messerstechereien verwickelt, in Oslo posiert der Sänger mit Hitlergruß und Swastika-Symbol. Alles für den Schock, alles für die Mythenbildung, schon klar. Aber eben durchaus ein wenig zu viel des Guten. Dem Erfolg des ersten und einzigen Albums Never Mind The Bollocks, Here‘s The Sex Pistols tut das gewiss keinen Abbruch. Fiebrig, überschäumend, nihilistisch und dennoch euphorisch: Das Album erscheint im Oktober 1977 ist zurecht ein Klassiker und ein Meilenstein der Rock-Geschichte.
Hier laut aufdrehen und in das legendäre Pistols-Album reinhören:
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Punk is dead
Die Band ist damals schon am Ende. Lydon und Vicious waren von einer engen Freundschaft in gegenseitige Abscheu katapultiert worden, die US-Tour Anfang 1978 ist eine endlose Abfolge von Drogenexzessen, Skandalen, Schlägereien und Krankenhausaufenthalten. Bei einem Konzert in San Francisco im Januar 1978 stellt er dem Publikum zum Abschluss eines desaströsen Auftritts die Frage, ob sie jemals betrogen wurden, und verlässt die Bühne. Es ist der letzte gemeinsame Gig der Band für lange Zeit.
Mit Lydons Weggang endet streng genommen auch die Ära des Punk in Großbritannien. Und für den Sänger, der danach mit Public Image Ltd weiterhin Erfolge feierte, kamen nach den Sex Pistols eh nur noch Nachahmer. „Die ersten 30 Reihen bei den Konzerten mit Public Image Ltd bestanden aus Johnny-Rotten-Imitatoren“, beklagte er vor wenigen Monaten in einem Interview mit der New York Times. „Ich dachte, das geht ja alles gewaltig schief! Ich hab das doch nicht gemacht, um eine neue Uniform zu erschaffen, die nicht mal ansatzweise so gut wie die war, die die Nazis hatten.“ Für ihn war der Punk mit den Sex Pistols untergegangen – und ist heute nur noch ein schlechter Witz. „Alle wollten das Klischee und die Uniformität aufrecht erhalten […], doch ich wollte immer nur neue und andere Dinge ausprobieren. Das ist Punk für mich.“
Mit anderen Worten: Punk ist nur das, woran auch Johnny Rotten beteiligt war. Das kann und sollte man man durchaus anders sehen – vor allem, wenn man bedenkt, dass Lydon bei Englands „Dschungelcamp“-Variante mitmachte und in einem Werbespot für Butter zu sehen war. Sein Einfluss auf diese Musik in den kurzen zweieinhalb Jahren Sex Pistols ist dennoch unbestreitbar hoch. Und seine rekordverdächtig schlechte Meinung zu kontemporären Punk-Bands wie Green Day ist auch mit seinen mittlerweile 63 Jahren ein konstanter Quell der Erheiterung.
https://www.youtube.com/watch?v=EcZne8YKgGY