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Dave Gahan Mitte der Neunziger - Foto: Mick Hutson/Redferns/Getty Images

Zeitsprung: Am 17.8.1995 schreit Dave Gahan um Hilfe - und überlebt das fast nicht.

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 17.8.1995.

von Victoria Schaffrath und Christof Leim

„Pleasures remain, so does the pain“: Exzess und Erfolg liegen bei Depeche Mode in den Neunzigerjahren eng beieinander. Frontmann Dave Gahan lebt seine düsteren Textzeilen ohne Kompromisse und tanzt vor den Augen der Welt immer näher an den Abgrund. Am 17. August 1995 nimmt die Dunkelheit überhand, aber verschlingen kann sie ihn nicht.

Hört hier in Songs Of Faith And Devotion rein: 

Als Depeche Mode in den Achtzigern den Pop-Olymp erklimmen, lässt sich das Motto „sex, drugs, and rock’n’roll“ längst auf Genres außerhalb der Gitarrenmusik anwenden. Während der Tour zu Songs Of Faith And Devotion, die am 19. Mai 1993 startet, legt sich ein Teil der Gruppe ordentlich ins Zeug, was einen maßlosen Lebensstil angeht, während der Rest darunter leidet: Gitarrist Martin Gore pflegt eine intensive Liebesbeziehung mit dem Alkohol, da befindet sich Keyboarder Andrew Fletcher schon länger in Behandlung für seine Depressionen, die ihn zeitweise zum Aussitzen mehrerer Termine zwingen. Für Schlagzeuger Alan Wilder bleibt da so wenig Raum, dass er im Juni 1995 sogar seinen Austritt aus der Band bekannt gibt und lieber bei Recoil weiterschraubt.

Maßlose Devotional-Welttournee

Allen voran lebt jenes exzessive Image mit all seinen Schattenseiten jedoch Dave Gahan. Der hatte sich Jahre zuvor nämlich auf eine Affäre eingelassen, der in dieser Dekade viel zu viele Musikidole anheimfallen: Die Heroinsucht des charismatischen Sängers ufert während der genannten Tour so sehr aus, dass er nicht nur im Alter von 31 während eines Konzerts einen Herzinfarkt erleidet, sondern einen eigenen Tourpsychiater abbestellt bekommt und auch sonst allerhand Chaos verursacht. 

Dass Sucht eine Krankheit und das Verhalten des Sängers höchst besorgniserregend ist, müssen wir nicht erklären. Wer aber einen Reporter in den Hals beißt oder ob der Nachricht von Kurt Cobains Freitod denkt, dieser habe ihm die Idee geklaut, der muss sich relativ dringend mit den großen Fragen des Lebens auseinandersetzen. Nach der herzbedingten Nahtoderfahrung tut Gahan das sogar: Zwar zieht er die restlichen Konzerttermine zunächst durch, checkt dann um Weihnachten 1994 aber in eine Entzugsklinik ein.

Heroin-Epidemie in den Neunzigern trifft auch Gahan

Seiner Gattin versichert er nach sechs Wochen Aufenthalt, clean zu bleiben; aber schon während des Gesprächs merkt er, dass das eher unwahrscheinlich klingt. Wenig später kehrt er zurück zu seinem Personal Jesus – und seine Frau ihm den Rücken. Es folgt eine monatelange Achterbahnfahrt zwischen Kliniken und Hotels, zwischen Abstinenz und Rausch. „Keine Ahnung, ob ich ‚clean‘ werden wollte. Es wurde jedenfalls sehr deutlich, dass die Party bald vorbei sein würde“, erinnert er sich später.

Es scheint, als will er sich zu einer Entscheidung zwingen. Als er ein weiteres Mal vom Entzug zurückkehrt, muss er feststellen, dass daheim in Los Angeles diverse Wertsachen und persönliche Gegenstände fehlen. Diesen Einbruch, überzeugt ihn die Paranoia, kann nur jemand aus dem engsten Kreis durchgeführt haben, also geht es zurück in ein Hotel. Nach einem wenig tröstlichen Anruf bei seiner Mutter, die auch noch offen daran zweifelt, dass ihr Sohn je eine Entzugsklinik betreten hat, sieht der Weltstar keinen Ausweg mehr.

Deutlicher Hilferuf

Mal heißt es, dass an diesem 17. August 1995 eine Flasche Rotwein und eine Handvoll Valium ihre Wirkung tun, mal spricht man von Heroin. Wir wissen jedoch: Als Gahan das Badezimmer seines Hotels betritt und zur Rasierklinge greift, ist er von „nüchtern“ weit entfernt. Was dann passiert, muss man nicht ausformulieren.

 

Der Brite beteuert später, es habe sich zwar um einen Suizidversuch, aber vor allem um einen Hilferuf gehandelt: „Ich habe dafür gesorgt, dass mich jemand findet.“ Ein Freund rettet ihm das Leben, als er nach ihm sieht und den Notdienst alarmieren kann. Die Rettungskräfte kennen ihn bereits und begrüßen den fast bewusstlosen Gahan mit den Worten „Du blöder Sack, nicht du schon wieder!“ Das bleibt hängen: In L.A. nennt man ihn wegen seiner neun Leben fortan „the cat“. 

„The cat“ überlebt – knapp

Gahan überlebt auch diesen zweiten Ernstfall, hat aber mit den Konsequenzen zu leben: Zunächst muss er einige Tage in der geschlossenen Psychiatrie verbringen, kurze Zeit später klagt man ihn sogar an, da in Kalifornien versuchter Selbstmord gegen das Gesetz verstößt. Leider bleibt es außerdem nicht der letzte Vorfall. Die neun Leben macht er beinahe voll; erleidet ein Jahr später eine Überdosis inklusive Blick ins Jenseits. 2009 stellt man während einer Tour Krebs fest. Das mit der Abstinenz klappt schließlich aber doch noch, denn 2011 feiert er ihr zehnjähriges Jubiläum. 

Depressiv? Hier bekommst du Hilfe: Wenn du selbst depressiv bist oder Selbstmordgedanken hast, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst du Hilfe von Beratern, die dir Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.