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Carlo Karges mit Nena 1983 - Foto: Michael Putland/Getty Images

Zeitsprung: Am 31.7.1951 wird Nena-Gitarrist Carlo Karges geboren.

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 31.7.1951.

von Peter Hesse und Christof Leim

Am 31. Juli 1951 wird Carlo Karges in Hamburg geboren. Kai Havaii von Extrabreit beschreibt den Nena-Gitarristen so: „Die Aura eines mittellosen Künstlers umweht ihn. Denn alles, was er besitzt, passt in einen kleinen Reisekoffer. Er spielt recht ordentlich Gitarre, aber seine Stärke liegt noch mehr in seinem Willen zum Pop.“ Als Komponist von Stücken wie 99 Luftballons sorgt Karges für den Erfolg der Gruppe Nena, der sogar bis in die USA und nach Japan reicht. Wenn er nicht am 30. Januar 2002 verstorben wäre, hätte er heute Geburtstag gefeiert.

Hier könnt ihr euch das Erstlingswerk der Nena-Band anhören:

Die Musik war für Carlo Karges schon in jungen Jahren eine wichtige Triebfeder. Er wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter in Hamburg auf, als Kind beginnt er Gitarre zu spielen und Lieder zu komponieren – und imaginiert sich mit seiner Fantasie so in eine andere Welt. Erste Live-Erfahrungen macht er in verschiedenen Hamburger Lokalbands wie der Progrock-Truppe Tomorrows’s Gift oder dem Release Music Orchestra. 1971, da ist Carlo 20 Jahre alt, landet er als Gitarrist und Keyboarder bei der Hippieband Novalis, für die er unter anderem den unfreiwillig komischen Text des Stücks Wer Schmetterlinge lachen hört schreibt.

Nächste Station: Extrabreit an

1975 verlässt er die Band Novalis wieder und beginnt in der Folgezeit seine Wanderjahre als Musiker: Er spielt bei den Bands Ramblers, Else Nabu und Desperado, doch der große musikalische Durchbruch bleibt aus. Im Jahr 1980 ersetzt er bei Extrabreit den ausgeschiedenen Piet Worthmann an der Gitarre, bleibt aber nur ein paar Monate bei den NDW-Rockern, weil er sich zwischen dem eingespielten Songwriter-Duo Kai Havaii und Stefan Kleinkrieg nicht recht behaupten kann. Im Jahr 1981 heuert Carlo bei der Berliner Band Bleibtreu Revue an, mit denen er das von Edo Zanki produzierte Album Ungeheuer Paranoia einspielt. Er bringt sich als Songwriter und Texter ein, eine ausgedehnte Tournee folgt. Die Gruppe gibt sich ambitioniert, doch auch hier fehlt es an kommerzieller Durchschlagskraft.  

Spliff produzieren erstes NENA-Album

Durch einen Zufall trifft Karges auf Sängerin Gabriele Susanne Kerner, genannt Nena, und Schlagzeuger Rolf Brendel. Die beiden sind ein Paar und haben gerade in Hagen ihre Band The Stripes hinter sich gelassen. Mit Keyboarder Uwe Fahrenkrog-Petersen und Bassmann Jürgen Dehmel wird daraus die Band Nena. Alle ziehen nach Berlin, und ihr neuer Manager Jim Rakete spielt ihr erstes Demo Musikern von Spliff vor. Manne Praeker und Reinhold Heil sind so begeistert von dem Quintett mit Sängerin, dass sie das erste Nena-Album produzieren. Ein Auftritt im Musikladen im August 1982 bringt schließlich den Durchbruch. Am nächsten Tag ist in den Plattenläden der Teufel los: von jung bis alt wollen alle die Platten des süßen Mädchens im roten Leder-Minirock kaufen. Dabei lag die Single Nur geträumt seit Juni verstaubend in den Regalen. Auch live sind die Fünf sehr gefragt, sie touren bald zusammen mit Chris de Burgh und Men At Work.

Die Band wird quasi über Nacht zum Erfolgsprodukt, alles überschlägt sich. Alleine auf dem Titelbild der Bravo wird Nena ganze 54 Mal zu sehen sein. Schlagzeuger Rolf Brendel erinnert sich: „Niemand hatte mit so einem irren Erfolg gerechnet, und niemand wusste so richtig, was auf einen zukam. Ich weiß noch, dass ich nach einer Fernsehsendung in Berlin mit blondgefärbten, toupierten Haaren auf dem Ku’damm stand – und gleichzeitig Liebeskummer und  Zahnschmerzen hatte. Zudem war mir klar, dass wir jeden Tag 40.000 Schallplatten verkauften. In meiner Fantasie sah ich mich schon als reicher Rockstar auf den Bahamas, hübsche Mädchen im Arm und Etagenkellner, die uns eisgekühlte Cocktails servieren. Aber in Wirklichkeit lief ich an der Gedächtniskirche vorbei und fühlte mich erbärmlich.“ 

Rolling-Stones-Konzert mit Luftballons

Für Carlo Karges wird der 8. Juni 1982 zu einem Schlüsselmoment. Die Rolling Stones spielen auf der Berliner Waldbühne ein Open-Air, am Ende der Show steigen Tausende von Luftballons in den Himmel. Diese Bilder gehen Carlo nicht aus dem Kopf. Er überlegt sich, was wohl die DDR-Grenzschutzsoldaten davon halten werden, wenn die ganzen bunten Luftballons in den grauen Ostblock rüber fliegen? Kann das als überirdischer und kapitalistischer Affront („Ufos aus dem All“) gedeutet werden, dem ein militärischer Gegenschlag folgt? Gitarrist Karges macht aus dieser Idee den Liedtext 99 Luftballons. Nena liest als erste die handschriftlichen Zeilen und überschüttet ihren Gitarristen mit Komplimenten: „Carlo, das ist das Beste, was du je geschrieben hast.“ Die Plattenfirma sieht das anders: „Kein Refrain, keine richtige Hookline, man kann nicht mitsingen.“ Aber Nena setzt sich durch – und das Lied wird ein großer Hit! Nummer eins – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Mexiko, Neuseeland, Schweden, Norwegen und Polen. Die Nummer logiert sogar drei Wochen in den britischen Charts auf Platz eins und klettert in die US-Billboard-Charts auf einen stolzen zweiten Platz.

„Carlo war ein Rockpoet, der es verstand Texte zu schreiben und Musik zu komponieren, die einen sofort mit auf eine Reise nehmen.“ So erinnert sich Nena-Drummer Rolf Brendel an seinen Bandkumpel Carlo Karges und ergänzt: „Für mich ist 99 Luftballons einer der besten deutschen Songtexte, die ich kenne. Da stimmt jeder Satz, das ist hohe Dichtkunst, und im Vergleich zu vielen anderen NDW-Trivialtexten schon fast Weltliteratur. Carlo war der Älteste von uns, hatte schon viel erlebt und konnte seine privaten Geschichten gut ausdrücken.“ 

Weiter, egal wie

Die Hitmaschine ist angeworfen, Plattenfirma und Management wollen das Quintett immer wieder zu neuen Höchstleistungen antreiben. Die Band gibt zig Interviews, gastiert ständig bei TV-Shows, es folgen Tourneen in Japan und im europäischen Ausland folgen. Jeder innerhalb der Mannschaft macht den Druck für sich anders aus: Rolf Brendel flüchtet in den Buddhismus, Nena verwandelt sich hinter der Bühne in eine zickige und launische Diva, die im Minutentakt neue Extrawürstchen fordert, und Carlo spült seinen Stress mit viel Alkohol runter. Denn die Maschine muss weiterlaufen.

Aus Carlo fließen noch weiterhin tolle Songs: Irgendwie, irgendwo, irgendwann etwa, Rette mich sowie Vollmond werden von ihm getextet und komponiert. Aber das Tempo hat Konsequenzen: Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwäche machen sich breit. Bei einem Konzert in Kaiserslautern begrüßt Karges 1984 die anwesenden 4.000 Fans mit „Hallo Karlsruhe!“ Auch die Plattenverkäufe sinken. Nachdem das Debütalbum Nena (1983) 800.000 Mal verkauft wird, geht der Nachfolger Fragezeichen (1984) noch 550.000 Mal über die Ladentheke. Als ein Jahr später das Album Feuer und Flamme „nur“ noch 250.000 Platten umsetzt, bekommt das Bandgefüge immer tiefere Risse.

Eifersucht & dubiose Immobiliengeschäfte

„Die Luft war einfach raus“, sagt Rolf Brendel, „denn wir hatten zu viel in wenigen Jahren gemacht. Alle waren satt und gestopft: vom Welterfolg, von Tourneen und TV-Shows. Wir waren müde von der gegenseitigen Nähe. Wir hätten ein paar Jahre lang Pause machen sollen, um danach einen neuen Anfang zu wagen.“ Intern gab es zudem einen Streit, da jedes Bandmitglied mit einem dubiosen Immobiliengeschäft im Berliner Grunewald mehr als eine Million D-Mark verloren hatte. Nena geht in einem Interview sogar noch einen Schritt weiter: „Es wurde alles an meiner Person aufgehängt. Einerseits gab es Eifersucht, weil ich im Mittelpunkt stand. Andererseits wurde ich für alles verantwortlich gemacht. Das war die einfachste Lösung. Irgendwann habe ich den Schlussstrich gezogen.“ 

Die Nena-Band in guten Zeiten. Ganz rechts: Carlo Karges Foto: Promo

Beginn einer Talfahrt

Karges probiert sich ein neues Standbein neben der Musik aufzubauen und eröffnet am 31. August 1985 in Berlin ein Musikercafé namens Café Carlo, was aber bereits im September 1986 wieder seine Türen schließt. Die Kundschaft bleibt aus, und der Gitarrist wird immer mehr sein bester Kunde. Mitte 1987 gründet Karges die Band Café Carlo und spielt danach in Gruppen wie Füll Service oder La Vida, die aber wegen Erfolglosigkeit schnell wieder verschwinden. Kai Havaii von Extrabreit erinnert sich nur an seinen alten Freund Carlo: „In rasendem Tempo war er zum lebenden Klischee eines Popstars geworden. Unsere Unterhaltungen hatten im Gegensatz zu früher manchmal etwas Steifes und Gewolltes. Mit der Trennung der Nena-Band begann die Talfahrt von Carlo. Als die Plattenfirma Sony seine neuen Projekte ablehnte, schickte er dem Chef der Company ein riesiges Paket mit seinen zahlreichen Gold- und Platinplatten, die er zuvor mit einem Beil zu Kleinholz gehauen hatte.“ Im Jahr 1989 kommt es zum vorläufigen Bruch zwischen Carlo und Nena, da Karges nach dem Tod ihres ersten Sohnes in der Zeitschrift Quick einen offenen Brief an Nena veröffentlicht. Es dauert ein paar Jahre bis sich beide wieder leiden können. 

1994 steuert er dann nach seiner Versöhnung mit Nena als Songschreiber wieder zwei Titel (Vor deiner Tür und Ich bin die Liebe) zu deren Soloalbum Und alles dreht sich bei, an zwei weiteren Liedern ist er als Co-Autor beteiligt. Ebenso wirkt Karges als Texter am ZDF-Soundtrack-Album Nena und die Bambus-Bären-Bande (1996) mit. In den letzten Jahren gelingt Carlo jedoch nicht mehr viel. Er spielt bei der Coverband Timebandits und zeitgleich bei einer Combo namens Taxi. Sein Alkoholismus hat mittlerweile sein musikalisches Talent in Gefangenschaft genommen: Er stirbt in Hamburg am 30. Januar 2002 mit nur 51 Jahren an Leberversagen.

Jedes Leben ist endlich

Am 15. Februar 2002 wird er in Hamburg auf einer Wiese des Olsdorfer Friedhofs mit anonymen Gräbern beigesetzt, seine Mutter besucht täglich seine Grabstelle. Auch Nena setzt der Tod von Karges zu: „Es gibt keine Sicherheit, und das Leben ist endlich. Das Thema Tod ist für mich nicht easy, denn das Leben ist ja eine Vorbereitung auf den Tod. Aber wir reden leider wenig darüber“, sagt sie prophetisch. 

Doch die Erinnerung an die vielen Songs von Carlo Karges bleibt. 99 Luftballons und Irgendwie, irgendwo, irgendwann werden noch eine ganze Weile gesungen, gespielt und gehört werden. Ruhe in Frieden.

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