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Foto: Universal Music

Gigi Perez: Emotionale Wunden aufreißen

Kunst soll Ausdruck von Emotionen sein. Dass die Aufarbeitung der eigenen Gefühle und Erlebnisse in Musik direkt einen Kontakt zum Publikum herstellt, beweist Gigi Perez. Die amerikanische Indie-Folk-Künstlerin landete schon einige virale Hits, die offen und verletzlich von queerer Liebe oder dem Tod geliebter Menschen erzählen.

„Oh, won’t you kiss me on the mouth and love me like a sailor?“ Eine Zeile, die aktuell im Internet viel herumgeistert, seit Gigi Perez dieses Jahr mit ihrem Sailor Song viral ging. Denn es ist ein Song, von dem sich viele verstanden fühlen und der eine Atmosphäre schafft, die den aktuellen Herbst-Blues treffend untermalt. Aber um zu verstehen, wie die junge Singer-Songwriterin hierhin gekommen ist, müssen wir die Zeit erst etwas zurückdrehen.

Musik als Befreiungsschlag

Gigi Perez wächst in West Palm Beach, Florida auf. Nicht unbedingt in einem besonders musikalischen Elternhaus, sie wird eher durch ihre große Schwester Celene für Musik begeistert. Bereits als Teenagerin beginnt Gigi Perez, Songs zu schreiben; das ist für sie nicht nur ein Hobby, sondern auch ein persönliches Ventil: Als lesbisches Mädchen an einer christlichen High School fühlt sie sich nicht gänzlich akzeptiert, also beginnt sie, ihre Emotionen in Musik auszudrücken – ein Befreiungsschlag. „Es fühlte sich an, als wäre es das erste Mal, dass ich atmen konnte“, reflektiert sie im Podcast Bringin’ It Backwards.

Sie studiert ein paar Semester am legendären Berklee College Of Music, bricht das Studium aber während der Corona-Pandemie ab – keine einfache Zeit. Denn neben der Belastung durch die Quarantäne und einer Trennung stirbt auch noch ihre Schwester Celene. Perez kann nicht anders, als einen Song über sie zu schreiben. Sie postet ihn nichtsahnend auf TikTok und geht innerhalb kurzer Zeit viral.

Hauptsache persönlich

Etliche Menschen werden berührt durch die persönlichen Geschichten, die Perez in ihre Texte packt. Diese schmerzen noch stärker durch ihre klagende Stimme, zerbrechlich und kraftvoll zugleich, mit einem androgynen Timbre und einem klaren Einfluss von Jeff Buckley sowie zeitgemäßen Künstler:innen wie Lucy Dacus. Auch Bon-Iver-Fans dürften direkt mit Gigi Perez‘ Musik connecten, ihre lofi-produzierten Indie-Folk-Songs klingen nach Wald, Nebel, Einsamkeit.

Gigi Perez im Circle Store:

Somit ergibt sich plötzlich eine neue große Aussicht auf die Karriere als Musikerin. Nicht nur der Song Celene, auch Sometimes (Backwood) bekommt so viel Aufmerksamkeit, dass ihr ein Deal bei Interscope Records angeboten wird, den sie auch annimmt. Die unter diesem Label erscheinende EP How To Catch A Falling Knife (2023) klingt – vielleicht durch das größere Budget – nochmal ordentlich polierter und poppiger, aber nicht weniger persönlich. Zu dem bisherigen Folk-Sound gesellen sich Einflüsse aus Soul und Chamber Pop. Perez schätzt aber auch Artists wie Indigo De Souza, Mac Miller oder Grimes, wie ihre Spotify-Playlist zum Song Normalcy verrät.

Segeln auf Wellen des Erfolgs

Mit Normalcy verabschiedet sie sich wieder von Interscope und wendet sich wieder einem roheren Produktionsstil zu, der die Texte noch mehr unter die Haut gehen lässt. Diesen Sound ziert schließlich auch der im Juli 2024 erscheinende Sailor Song, ihr mit Abstand größter Erfolg bisher. Nicht nur durch seine catchy Melodie und mitreißende Gesangsperformance, sondern auch durch seinen Text sticht dieser so heraus, dass er schließlich Millionen Menschen auf die For You Page auf TikTok geschwemmt wird.

Im Song geht es um den Wunsch, als weiblich gelesene Person eine andere weiblich gelesene Person zu lieben, ohne Scham und Schuldgefühle. Womit wir wieder bei den zu Anfang zitierten Zeilen sind: „Oh, won’t you kiss me on the mouth and love me like a sailor?“ Eine bedingungslose Liebe durch alle Wetter und Stürme und Wellen, egal wie sehr das Boot schwanken mag. Nicht verwunderlich, dass der Song zu so etwas wie einer Hymne der LGBTQIA+-Community wird.

Sailor Song ist mittlerweile ein internationales Phänomen, erreicht den zehnten Platz in den Global Spotify Charts, Nummer 13 in Deutschland. Die großen Stars haben Gigi Perez längst anerkannt, schließlich spielte sie schon bei Coldplay, Noah Cyrus oder D4vd live als Support-Act. Wir befinden uns also aktuell an einem echt spannenden Punkt in Perez’ Karriere: Nach einigen viralen Hits und einer erfolgreichen EP gelang ihr nun der Durchbruch mit einem Über-Hit – aber führt das Ganze auf ein größeres Projekt hin? Ein komplettes Album voller hochpersönlicher Geschichten und immersiver Atmosphäre, wie wir es bisher von ihr gewohnt sind, würde die Newcomerin sicher als etablierte Größe in der Musiklandschaft zementieren. Beweisen muss sie sich nicht mehr.

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