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Foto: Camille Blake

Hildur Guðnadóttir im Interview: „Musik ist eine Zeitmaschine“

Man kennt Hildur Guðnadóttir heute als Star-Filmkomponistin – als die Person hinter dem musikalischen Zauber von Filmen wie Joker, Tár und Die Aussprache oder der Mini-Serie Chernobyl. Sie hat einen Oscar, einen Grammy und zwei Golden Globes im Regal stehen; nebenbei war sie die erste Frau, die jemals in der Orginal-Score-Kategorie der Golden Globes ausgezeichnet wurde, bei den Academy Awards immerhin die erste seit 1983.

Doch Hildur Guðnadóttir ist auch Solo-Musikerin, und das schon lange bevor Hollywood ruft. Als Cellistin und Sängerin veröffentlicht sie seit 2005 Musik, ihr letztes Solo-Album Saman liegt mittlerweile jedoch schon elf Jahre zurück. Nun ist es Zeit für ein neues Kapitel: Das  Studioalbum Where To From zeigt noch eine Seite Guðnadóttirs: die der Musikerin und Komponistin, die auch heute noch fasziniert ist von der Magie und Geheimnishaftigkeit der Musik.

Woher kommt die Musik? Und warum? Where To From begnügt sich damit, keine Antworten auf diese Fragen zu haben. Über eines ist sich die in Berlin lebende Isländerin jedoch sicher: Für jede Musik gibt es den richtigen Moment, sie in die Welt hinauszuschicken. Wir trafen Hildur Guðnadóttir in der Hauptstadt zum Gespräch über Zeit, Inspiration, die aus dem Nichts kommt und Kunst in der Unterhaltungsbranche.

Hildur, es sind elf Jahre seit deinem letzten Solo-Album vergangen – eine ziemlich lange Zeit…

Ja, ich glaube, es gab mehrere Gründe, die zu dieser Pause geführt haben. Zunächst einmal habe ich einen Sohn bekommen und wollte mehr für ihn da sein. Also habe ich beschlossen, eine kleine Pause von den Konzerten zu machen und mehr von zu Hause aus zu arbeiten. Zufällig war das genau zu der Zeit, als ich angefangen habe, mehr Filmprojekte zu machen, was sehr arbeitsreich und zeitintensiv wurde. Jetzt, wo mein Sohn ein Teenager ist und mich nicht mehr ständig braucht, hatte ich das Gefühl, wieder etwas mehr Konzerte geben und reisen zu können.

Obwohl ich ständig schreibe, spiele und arbeite, habe ich aber auch das Gefühl, dass es einen richtigen Zeitpunkt und Ort gibt, an dem Dinge veröffentlicht werden sollten. Ich habe in den letzten Jahren angefangen, an vielen verschiedenen Ideen und Stücken für mögliche Platten zu arbeiten, aber irgendwie hat sich nie alles ganz richtig angefühlt. Also habe ich eine Menge halbfertige Stücke, die sozusagen in der Warteschlange stehen und werde jetzt wahrscheinlich schneller Dinge veröffentlichen. Ich wollte aber wirklich sichergehen, dass das Soloalbum, das ich als Nächstes nach all dieser Filmmusik veröffentlichen würde, wirklich etwas ist, das ich mir sehr gewünscht habe – etwas, das aus der Freude daran entsteht, es zu veröffentlichen, und nicht aufgrund irgendeines Drucks.

„Die Noten sind nur ein Mittel, um Raum für die Stille zu schaffen.“

Nichtsdestotrotz bist du immer noch sehr beschäftigt mit der Filmmusik. Warum fühlte sich jetzt also wie der richtige Zeitpunkt an, um auch ein neues Solo-Werk zu veröffentlichen?

Dieses Mal war die Motivation für dieses Album im Grunde genommen einfach, dass ich unbedingt mit meinen Freund:innen in einem Raum Musik machen wollte, die aus L.A. zu Besuch kamen und für ein paar Tage in Europa waren. Und dann hat sich alles ganz natürlich gefügt. Die Stücke sind so etwas wie Tagebucheinträge, kleine Samenkörner, Melodien, Ideen oder Gedanken, die mir zu jeder möglichen Zeit und an jedem möglichen Ort ganz natürlich in den Sinn kommen – wenn ich draußen bin, Fahrrad oder Auto fahre – oder mich mitten in der Nacht aufwecken. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, diese Ideen, diese Keime auf meinem Handy festzuhalten, und zwar nicht mit der konkreten Absicht, sie in Stücke umzuwandeln oder aufzunehmen, sondern einfach nur, um den mentalen Raum zu erkennen, in dem ich mich gerade befinde. Wenn man eine Audioaufnahme hat, hat man eine Zeitachse und ein Gefühl für den Rhythmus, in dem man sich gerade befindet. Als ich also wusste, dass meine Freund:innen zu Besuch kommen würden und ich etwas brauchte, das wir spielen konnten, bin ich über diese vielen Jahre an Aufnahmen gestolpert.

Es war ein sehr interessanter Prozess für mich, durch die Jahre meiner Gedanken zu gehen. Was mir klar wurde, als ich anfing, diese Ideen durchzugehen, war, dass ich mich oft danach sehnte, mehr Zeit zu haben, oder danach, dass die Zeit langsamer vergeht. Ich denke, das kann man daran erkennen, dass es bei dieser Musik nicht nur um die gespielten Noten geht, sondern auch um die Stille, die wirklich den Mittelpunkt der Kompositionen bildet. Die Noten sind nur ein Mittel, um Raum für diese Stille zu schaffen. Das Faszinierende an Musik ist für mich, dass sie eine Zeitmaschine ist. Sie ist wie ein Vehikel, um die Zeit schneller vergehen zu lassen – wenn du zum Beispiel Tanzmusik hörst, weil du Energie brauchst und in Schwung kommen musst. Aber du kannst auf die gleiche Weise auch die Zeit langsamer vergehen lassen und das Gefühl von Antrieb und Energie verringern, indem du die Dinge verlangsamst oder weniger Noten verwendest.

Hildur Guðnadóttir im Circle Store:

War dieses Thema der Zeit also das Auswahlkriterium für die Stücke, oder wie hast du entschieden, in welche Richtung sich dieses Release bewegt?

Diese Stille und der Respekt davor – nicht zu versuchen, sie zu füllen – das war wichtig für mich und hat mich angezogen. Ich veröffentliche nun schon seit 20 Jahren Musik. Wenn du damit anfängst, hast du keine Ahnung, wer sie hören wird oder was für ein Leben diese Musik entwickeln wird. Das ist das Schöne daran, ein Musikstück in die Welt hinauszuschicken: Man hat wirklich keine Kontrolle darüber. Es geht einfach seinen eigenen Weg. Und wenn ich auf die 20 Jahre zurückblicke, in denen meine Musik ihren Weg in die Welt gefunden hat, und mir anschaue, wer sie hört, wie sie gehört wird und welchen Zweck sie für Menschen erfüllt, dann lautet die übergreifende Aussage, die ich in diesen zwei Jahrzehnten immer wieder gehört habe, dass die Leute meine Musik hören, wenn sie etwas anderes schaffen: wenn sie malen oder schreiben oder recherchieren – wenn sie diesen kontemplativen Raum schaffen müssen, den ich selbst auch zu erreichen versuche, wenn ich schreibe. Ich bin so dankbar dafür, dass meine Musik in diesem Raum leben darf und wollte mir dessen bewusst sein, als ich die Platte aufgenommen habe, dass dies höchstwahrscheinlich der Ort sein würde, an dem sie leben würde. Und deshalb wollte ich in gewisser Weise all diesen Menschen danken, dass sie mir erlaubt haben, Teil dieses Prozesses zu sein. Ich finde das so schön und inspirierend, weil ich denke, dass der Grund dafür, etwas zu veröffentlichen und es nicht nur für sich selbst zu schreiben und in einer Schublade zu lassen, die Hoffnung ist, dass es andere dazu inspiriert, etwas anderes zu schaffen; dass es irgendwie Teil des Kreislaufs wird. 

Im Laufe der Jahre hast du mit verschiedenen Arten von Orchestrierungen, Instrumentierungen und Bandkonstellationen gearbeitet. War im Bezug auf ein neues Solo-Album von Anfang an klar, dass du mal wieder mit einer intimeren, reduzierteren Besetzung aus Streichern und Gesang arbeiten willst?

Ich wollte diese Musik unbedingt live spielen können, also wollte ich sozusagen eine Platte und eine Performance gleichzeitig schaffen. Ich wollte sie mit einem Ensemble spielen, das recht leicht zusammen auftreten kann. Cello und Gesang sind natürlich meine Hauptinstrumente und die treibende Kraft für die Entstehung dieses Albums. Das ist auch die Hauptinstrumentierung meines vorherigen Albums, also wollte ich diesen Gedankengang sozusagen fortsetzen. Es schien perfekt, diese intime Umgebung zu haben. Meine früheren Solo-Alben wurden größtenteils von mir selbst gespielt, aber schon als ich diesen Raum für meine Freund:innen öffnete, spürte ich Liebe und es fühlte sich wirklich natürlich an. Außerdem war es für mich sehr aufregend, weil ich in den letzten Jahren so viel komponiert habe, und wenn man komponiert, ist man wirklich ganz allein in einem Raum. Es war also schön, einfach in einem Raum zu sitzen und mit anderen zusammen zu spielen.

Die Vocal-Tracks auf dem Album drehen sich oft um mantraartig wiederholte Phrasen, etwa in Make Space. Wie entstehen diese Texte: Suchst du die Worte passend zu Sound und Melodie oder umgekehrt?

Ich bin nicht wirklich ein Wortmensch und Texte sind normalerweise keine treibende Kraft für mich, aber manchmal kommt ein Wort oder eine Phrase, die irgendwie mit einer Melodie oder mit Noten einhergeht. Das war der Fall bei Make Space. Beim letzten Titel auf der Platte, Fólk fær andlit, war es auch der erste Satz, der sich durch den gesamten Titel zieht und die Musik, die zusammenkamen. Das erste Wort in diesem Song „miskunn“ bedeutet Gnade, und die Art und Weise, wie diese Musik entstand, war eine direkte Reaktion auf einen wirklich brutalen Kommentar zur Flüchtlingskrise. Ich war sehr traurig über die Art und Weise, wie Flüchtlinge behandelt und abgeschoben werden. Sie werden einfach zurückgelassen, um zu sterben, damals und auch heute noch. Diese Musik war der Ausdruck einer Art Sehnsucht danach, etwas zu manifestieren, indem man dasselbe Wort immer wieder wiederholt – eine wirklich große Sehnsucht, dass wir diesen Menschen Gnade erweisen und ihnen Empathie entgegenbringen; ebenso wie Sehnsucht danach, traurig zu sein über den Mangel an Menschlichkeit, mit dem wir Immigrant:innen heute größtenteils behandeln, und um Vergebung zu bitten.

Make Space war hingegen viel freudiger: Es war ein ganz normaler Montag und ich war auf dem Weg, meinen Sohn von der Schule abzuholen. Plötzlich kam mir diese Melodie mit diesen Worten in den Sinn, und das hat mich einfach glücklich gemacht. Ich fand es so lustig, dass ich alleine draußen spazieren gehen konnte und plötzlich eine Melodie aus dem Nichts kam, und ich hüpfte zu dieser Melodie herum, die niemand sonst hören konnte. Als ich sie in mein Handy sang, musste ich lachen, weil es so absurd war. Das ist auch die Schönheit der Musik: dass sie unsere Stimmung so verändern kann; dass sie uns, selbst wenn sie nur in unserem Kopf spielt, an einen völlig anderen Ort versetzen kann. Und das nur mit ein paar Noten.

„Ich habe mich sehr bewusst damit befasst, wie viel Aufmerksamkeit ich der Außenwelt und der Branche schenken möchte“

Spätestens seit dem großen Erfolg der Scores für Chernobyl und Joker bist du auch Teil des Hollywood-Geschäfts. Hat dieses zunehmende Engagement in der Business- und Industriewelt deine Beziehung zum Musikmachen verändert?

Ja und nein. Zunächst einmal war es sehr seltsam für mich, als das passierte, denn ich mache schon so lange Musik und habe nie wirklich erwartet, dass die Leute so viel Aufmerksamkeit darauf richten würden. Das war nicht meine treibende Kraft, Musik zu machen. Ich war vollkommen zufrieden damit, 15 Jahre lang Musik zu veröffentlichen, die kaum jemand wirklich beachtet hat. Also musste ich mich erst einmal daran gewöhnen, Interviews zu geben und umzugehen mit der geschäftlichen Seite der Branche und dem Druck, der damit einhergeht. Die Projekte in der Filmwelt sind sehr teuer, also machen sich die Leute Sorgen darüber, ob ein Film die Leute anspricht und an den Kinokassen gut läuft – all diese Dinge, über die ich vorher nie nachgedacht habe. Aber weil ich schon vorher recht viel Erfahrung hatte, hatte ich irgendwie ein sehr starkes Gefühl dafür, was mich wirklich interessiert, warum und wie ich Dinge mache. Ich glaube, dass diese langjährige Praxis es mir ermöglicht hat, ein etwas stabileres Fundament unter meinen Füßen zu haben. Ich bin wirklich vorsichtig, diesen kreativen Raum nicht zu kontaminieren.

Wie schaffst du das?

Ich habe mich sehr bewusst damit befasst, wie viel Aufmerksamkeit ich der Außenwelt und der Branche schenken möchte, was nicht besonders viel ist. Deshalb wollte ich nicht nach L.A. ziehen und Vollzeit-Filmkomponistin werden, denn das war wirklich nie meine Absicht, sondern immer nur eine der Sachen, die ich gemacht habe. Ich habe darauf geachtet, dass das so bleibt; dass ich nicht nur Scores mache, sondern auch weiter Instrumente baue, mit Bands spiele, meine eigene Musik schreibe, in Berlin bleibe und mit denselben Leuten zusammenarbeite, mit denen ich seit Jahrzehnten zusammenarbeite, die Beziehungen pflege, die mir wichtig sind, und versuche, dem Lärm so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu schenken. Ich glaube, ich habe es geschafft, eine gute Balance zu finden, indem ich in meiner Spur bleibe und fast genauso wie früher arbeite. Ich achte etwa sehr darauf, dass ich meine Instrumente übe. Ich investiere viel Mühe und Zeit in das Üben: Normalerweise verbringe ich nur die Hälfte des Tages mit Komponieren, weil ich die andere Hälfte übe. Mir ist klar geworden, wie wichtig das für mich ist, um mich nicht nur um den musikalischen Output zu kümmern, sondern auch um den Input. Ich denke, das ist der knifflige Teil, wenn man diese Filmmusikwelt ausbalancieren will, denn da muss man eine bestimmte Anzahl von Minuten Musik pro Tag liefern und solchen Dinge, aber ich versuche weiterhin einfach das zu schreiben, was ich für wichtig halte.

Hildur Guðnadóttir live:

01.11.25 Volksbühne, Berlin
02.11.25 Volksbühne, Berlin
21.03.26 Barbican Centre, London
26.04.26 Konzerthaus, Wien
04.06.26 Harpa Reykjavik Concert Hall, Reykjavík
06.06.26 Harpa Reykjavik Concert Hall, Reykjavík

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