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Foto: Chelsea Lauren/WireImage/Getty Images

„I Am Tim“: Das haben wir aus der Doku über EDM-Megastar Avicii gelernt

Am 20. April 2018 schockierte die Nachricht vom Tod von Tim Bergling alias Avicii die Musikwelt. Nun widmet sich die Netflix-Doku I Am Tim dem Leben des schwedischen EDM-Superstars, Produzenten und DJs.

Ein Gefühl hat man bei I Am Tim (Regie: Henrik Burkmann) über die volle Strecke: In Aviciis Leben und Karriere ging es einfach immer unglaublich schnell. Zu schnell. Vom Stockholmer Studiokeller in die ersten Clubs, von den ersten Clubs in die Arenen und von dort in die internationalen Headliner-Slots, vom schwedischen Zuhause in die kalifornische Luxusvilla: Aviciis Schicksal legte eine nahezu surreale Geschwindigkeit an den Tag. Der Musiker war extrem talentiert und auch extrem getrieben – aber, das geht aus der Doku klar hervor, es wäre ohne eine andere Person so nicht gegangen: Die Rede ist von seinem Manager Arash „Ash“ Pourouni.

Das große Versprechen

Umreißen wir die Geschichte kurz: Gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Philgood (mit bürgerlichem Namen Filip Åkesson) begann Bergling, jede freie Minute mit dem Schreiben und Aufnehmen von House-Tracks zu verbringen. Avicii und Philgood schickten die Stücke an diverse EDM-Blogs. Der erste Achtungserfolg kam, als sein Song Manman einen Wettbewerb gewann und als Hauptpreis eine Veröffentlichung beim Plattenlabel Bedroom Bedlam erhielt.

Dann der erste Kontakt mit Pourouni: Der Manager kontaktierte ihn übers Internet und zeigte sich überzeugt, aus Avicii einen Weltstar machen zu können. Er brauche dafür nur ein Jahr Zeit, erfährt man in der Netflix-Doku – und Berglings Eltern stimmten zu, dass er sich ein Jahr nur auf die Musik konzentrieren dürfe. Mit Philgood endete die Zusammenarbeit recht bald. Dieser erklärt in der Doku, dass er nicht im Schatten Berglings stehen wollte und außerdem Drogenprobleme hatte, während Bergling zu jener Zeit gegen Drogen war.

Bergling und Pourouni waren danach nicht mehr zu stoppen – und das Mega-Versprechen des Managers ging tatsächlich auf. Avicii wurde ein Superstar, der größte, den EDM je gesehen hat und vielleicht je sehen wird.

Talent und Rastlosigkeit

Avicii arbeitete wie besessen, war jedoch auch extrem gehetzt. In der Doku entsteht der Eindruck, dass er eine wahre Kreativmaschine war. Chris Martin erzählt, man habe immer sehr schnell alles im Kasten gehabt und es sei so gewesen, als würde Avicii stets gleich weiter müssen. Wie Bergling selbst 2017 dem US-amerikanischen Rolling Stone erklärte, hatte das auch durchaus seine Kehrseiten – etwa bei der Arbeit mit Madonna an deren Album Rebel Heart. „Ich würde gern wieder mit ihr zusammenarbeiten, aber das war genau zu der Zeit, als ich am meisten zu tun hatte, und ich glaube, sie war vielleicht enttäuscht von mir, weil ich nicht so viel Zeit aufbringen konnte, wie sie wollte. Viele Dinge beginnen zu leiden, wenn man nicht die Energie oder die Zeit hat, die Dinge richtig zu tun. Man denkt, man kommt damit durch, aber die Qualität leidet“, so Avicii damals.

Laptop als Instrument

DJ und EDM-Superstar hin oder her: Avicii selbst war viel mehr Songwriter als reiner EDM-Produzent – einer, dessen Instrument der Laptop war, der aber nach und nach mehr am Klavier komponierte. Avicii spielte selbst ein wenig Gitarre, hatte – wie er in einem in der Doku gezeigten Interview erzählt – in seiner Jugend nie den Ehrgeiz, ausreichend zu üben, um auf dem Instrument gut zu werden.

Der ausschlaggebende Moment war, als ihm ein Freund das Aufnahmeprogramm FL Studio zeigte. Plötzlich musste Bergling, immer schon von Melodien fasziniert, Sachen nicht einspielen, sondern konnte sie einfach auf dem Piano-Grid einzeichnen. Die Möglichkeiten waren nicht enden wollend. Vor allem hatte Avicii aber eines: ein unglaubliches Gehör für Melodien und Hooklines. Das beweisen die Studioaufnahmen im Film eindrucksvoll.

EDM war seine Verwurzelung, allerdings war das Genre bei weitem nicht alles. „EDM wurde vor vier, fünf, sechs Jahren übersättigt, als Geld alles wurde“, erinnerte sich Avicii einmal in einem Interview. „Von diesem Zeitpunkt an wollte ich mich mental nicht mehr mit EDM in Verbindung bringen. Jetzt, wo ich mehr Zeit im Studio habe, möchte ich so viel wie möglich über andere Genres lernen. Das ist es, was ich am meisten liebe – eine Session mit Nile Rodgers zum Beispiel, und ein Verständnis von Musik zu bekommen, das von unschätzbarem Wert ist.“

Rodgers, genauso wie viele andere Kolleg:innen, kommen in I Am Tim ausführlich zu Wort. Sie alle zeichnen dasselbe Bild: von einem begeisterungsfähigen Bergling, der blitzschnell Hooklines und Melodien erfassen, kreieren und verändern konnte. Einer, der die Musik über alles liebte, sich jedoch vom Business fast auffressen ließ. Man sieht, wie Bergling (der mit schweren Panikattacken kämpft) vom anfänglichen Drogen-Gegner zum Tablettensüchtigen und Alkoholiker wird, wie ihn eine Intervention seiner Familie zunächst wütend macht, er dann aber einstimmt und auf Entzug geht. Man sieht, wie er dem Musikgeschäft den Rücken kehrt, sich der Meditation widmet, versucht, mental gesund zu werden. Er nutzt sein Geld, um in seiner Freizeit die Welt zu bereisen – seine Freunde nimmt er oft mit. Nur einmal nicht, als er in den Oman fährt. Zu dem Zeitpunkt arbeitet er wieder begeistert an neuer Musik – einem Freund erzählt er am Telefon, er wolle sich das Land nur einmal anschauen.

Leider kam er nie zurück: Avicii beendete sein Leben. Er wurde 28 Jahre alt – kaum auszudenken, was von ihm noch alles kommen hätte können. Daran – und an den sympathischen, getriebenen Menschen Tim Bergling, der in kurzer Zeit unglaublich viel geschaffen hat, erinnert uns die Doku I Am Tim.

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