Interview mit Wolf Alice: „Mich interessiert Musik, die sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geeignet ist“
popkultur22.08.25
Wolf Alice verstecken nicht, dass sie mit ihrem neuen Album The Clearing nach den Sternen greifen und sich hier in einem Meisterwerk verewigen wollen. Wenn die Liste der Referenzen von den Beatles über Fleetwood Mac bis hin zu Guns N‘Roses führt, kann man Großes erwarten – oder etwas, das vor lauter Größenwahn direkt gegen die Wand fährt.
Höre hier in The Clearing rein:
„Man kann auch tolle EPs machen, aber wir sind Alben-Fans. Und das ist ein echtes Album-Album und wir sind eine richtige Band-Band“, erklärt Bassist Theo Ellis lachend, und fragt, ob ich weiß, was er damit meine. Im Juni habe ich Ellie Rowsell (Sängerin, Gitarre, Klavier), Joff Oddie (Gitarre, Klavier), Theo Ellis (Bass) und Joel Amey (Schlagzeug) knapp vor ihrem Abflug noch einmal abpassen können. Sie hatten zwischen die zahlreichen Festivalgigs eine intime Show in Berlin dazwischen geschoben. Videos der bombastischen Auftritte unterstreichen, was Theo hier sagt: Die Mitglieder Wolf Alice sind spätestens mit The Clearing zu einer großen kreativen Einheit der Superlative verschmolzen.
Obwohl Ellie Rowsell, nun ohne Gitarre um den Hals geschwungen, mehr denn je zur charismatischen Frontfrau aufläuft, fühlt man, wie die vier auf der Bühne jede Note, jede Idee miteinander teilen und sich gegenseitig zu Höchstform pushen. Sie verbindet eine gemeinsame Vision, die sie gemeinsam mit Produzent Greg Kurstin in L.A. herausgearbeitet haben. „Die Sache ist die: Manche Dinge, die man mit den anderen teilt, hält man selbst für wertlos, und dann finden die anderen etwas darin. Das ist das Spannende daran, dass die anderen deine Idee vielleicht in einem ganz anderen Licht sehen und manchmal auch das, was du für absolut fantastisch hältst, für schlecht finden“, lacht Joel. „Und dann macht man weiter. Aber das bedeutet es, in einer Band zu sein.“
Vier Songwriter:innen in einer Band
Jede:r Einzelne hat sich in die Songs mit Ideen, Impulsen und Wendungen eingebracht, das ist klar herauszuhören. Und obwohl die vier zu einem besonderen Team zusammengewachsen sind, beschreibt Joel, dass er immer noch nervös ist, seine ersten Ideen mit der Band zu teilen. „Ich finde, es ist etwas ganz Besonderes, Musik, an der man arbeitet, mit Menschen zu teilen, deren Meinung mir wirklich wichtig ist. Ich würde mich freuen, wenn sie es lieben würden, aber das heißt nicht, dass sie alles lieben müssen. Musik bedeutet mir alles, die Band bedeutet mir alles, daher ist das ein besonderer Teil des Prozesses. [...] Wenn wir aber eine Platte aufgenommen haben, die in die Welt hinausgehen soll, bin ich ziemlich zuversichtlich, dass wir mit dem Ergebnis zufrieden sind.“ Aus diesen Zeilen hört man das gegenseitige Vertrauen in die Meinung der anderen und in ihren geteilten hohen Anspruch in ihre Musik heraus. Was die Band gut findet, das ist auch gut.
Die Familie, die man sich aussucht
Joel Amey ist auf diesem Album wieder in den Leadvocals eines Songs zu hören. White Horses ist eine wunderbare, psychedelisch angehauchte Hymne auf Freundschaften und die sogenannte Chosen Family, also die Familie, die man sich selbst aussucht. In diesem Fall: Wolf Alice. Theo kommentiert: „Wir haben es geschafft, eine wirklich schöne und gute Freundschaft aufrechtzuerhalten, und das bedeutet uns sehr viel. Aber wahrscheinlich hat das auch damit zu tun, dass uns die Liebe zu dieser Band verbindet und wir dieses Projekt wahnsinnig ernst nehmen.“ Auch Ellie Rowsell denkt laut über das Thema Familie nach. In dem wohl intimsten Titel Play It Out singt sie gleich in der ersten Zeile „When my body can no longer make a mother of me, will I change my notion?” und überlegt offen, ob sie je für die Familienplanung bereit wäre.
Es ist ein Song, der sich anfühlt wie ein intimes Gespräch unter Freund:innen. „Eigentlich dachte ich nicht, dass es so persönlich wäre, denn es war ein Gespräch, das ich mit ziemlich vielen Leuten geführt habe. Was ist Familie? Wie verändert sich die Familie, wenn man älter wird? Ich habe dieses Gespräch über Elternschaft mit vielen Menschen geführt, die jetzt Kinder haben, und mit einigen, die keine haben. Daher kam es mir nicht wie ein einzigartiger Song vor. Es ist ein Gespräch, das ich immer wieder mit Männern und Frauen geführt habe. Jetzt macht es mir ein wenig Angst“, gesteht Rowsell. Gerade ungeklärte und offene Fragen kommen immer mit einer gewissen Verletzlichkeit, selbst den besten Freund:innen gegenüber. Denn nicht zu wissen, was kommt, was kommen soll, räumt anderen Personen auch gewissermaßen Einfluss ein. „Man könnte meinen, dass solche intimen Themen besser auf dem Sofa bleiben sollten, aber genau das sind die Dinge, die die Leute in einem Song finden wollen. [...] Musik ist tröstlich.“
Es ist genau diese Entschlossenheit Geschichten zu erzählen, die Rowsell zu so einer besonderen Songwriterin machen. Auf dem Debüt My Love Is Cool hat sie es geschafft, jugendlichen Leichtsinn in Marmeladengläsern zu konservieren und das Gefühl für jedes Alter erfahrbar zu machen. So waren Visions Of A Life und Blue Weekend Weiterführungen des Coming Of Age – sowohl im Sound als auch in den Geschichten. Heute haben die Zweifel, die sich durch die Lyrics ziehen, einen anderen Ton, Übermut wandelte sich in Überforderung und Müdigkeit. Doch auch eine Menge Selbstsicherheit liegt in den Zeilen. Wie auf der großen Ballade The Sofa. „Es geht darum, nicht so sehr zu versuchen, alles herauszufinden, über das Älterwerden nachzudenken und zu versuchen, sich nicht über Dinge zu quälen, die in deinem Leben passiert sind oder nicht passiert sind“, beschreibt Rowsell.
Neue Selbstsicherheit
Direkt vom ersten Song an hören wir zarte Violinen und ein großartiges Falsett von Ellie Rowsell, die augenscheinlich seit dem letzten Album tagtäglich Gesangsunterricht genommen haben muss. Schon immer war ihre Stimme stark, markant. Auf Blue Weekend gab es vereinzelte Momente, in denen Rowsell schmettert, nun ist das Album voll von dem Facettenreichtum ihrer Stimme. Darauf angesprochen, lacht Rowsell. Schon die erste Singleauskopplung, die diese neue Ära der Band ankündigte Bloom Baby Bloom ist ein gewaltiger Hit, der zwischen verschiedenen Haltungen hin und her springt. Über ein Piano-Bett – in dieser Prominenz etwas Neues im Wolf-Alice-Universum – singt, seufzt und wütet Rowsell, während ihre Bandkollegen nur fragmentarisch aber nicht minder gesetzt und prominent auftreten: Joff Oddie liefert ein winziges Gitarren-Solo – ein schneller rapider Lauf –, Theo Ellis wirft eine arhythmische Basstonleiter in den Mix. „Ich wollte einen Rocksong – mit dem Fokus auf die Performance, wie man es bei einem Rocksong erwartet – und ich wollte singen wie Axl Rose, aber dabei über das Frausein singen“, erklärt Ellie Rowsell zu dem Song.
Musik für Kinder und Erwachsene
Immer wieder schwingen beruhigende, bestätigende und zuversichtliche Momente auf The Clearing mit. Schon aus dem letzten besonders cineastischen Album Blue Weekend haben Wolf Alice eine zweite Lullaby-Version der Platte gezaubert, die die großspurigen, vollen Songs ruhiger und kindlicher inszenieren. Auf The Clearing gibt es immer wieder Momente verspielter Simplizität. Allen voran The Midnight Song – ein Schlaflied, das nach Simon & Garfunkel klingt und selbst um ein Abschiedslied bittet. Rowsell erklärt: „Mich interessiert Musik, die sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geeignet ist, also nicht nur Schlaflieder. [...] Als ich jünger war, hätte ich das gehasst, aber jetzt, wenn etwas wie für Kinder gemacht ist, denke ich: ‘Ja!’“. Lachend fügt die Frontfrau hinzu: „Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist außerdem so kurz, da weiß man, dass es sich lohnt, wenn sie wirklich zuhören.“
The Clearing steckt voller Spielereien. Ständig wird die Tonart gewechselt, Tempi werden variiert und zu der klassischen Bandaufstellung gesellt sich ein besonders prominentes Piano, sowie Flöten und Violinen hinzu. Und trotzdem sind die Melodien eingängig und voll Lebensfreude. Die Beatles, als eine große Inspiration sowohl klanglich als auch in ihrer Arbeitsweise, haben The Clearing besonders stark geprägt und das hört man in jedem Song. Allerdings klingt es nach einer Version der Beatles, die die 90er mitgenommen haben und RomCom-Intros lieben. Wolf Alice haben sich nicht zu große Ziele gesteckt, sondern sind scheinbar mit Leichtigkeit und kreativer Schaffensfreude zu einer echten Band-Band gewachsen.