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Foto: Pierre Hennequin

Melody Gardot: Wie ein tragischer Unfall eine der größten Jazz-Stimmen unserer Zeit hervorbrachte

Schon ihr Name ist klangvoll: Melody Gardot zählt zu den schönsten Stimmen des modernen Jazz. Ihre erste Best-Of The Essential Melody Gardot gibt den schönen Anlass, ihre besondere Karriere zu durchleuchten. Ohne Musik, so wird schnell klar, wäre sie heute nicht dieselbe.

Eine Stimme, der man zuhören muss

Wenn sie singt, verstummen sofort alle Gespräche. Sie hat eine Stimme, der man zuhören muss, weil man sonst das Gefühl hat, etwas Elementares zu verpassen. Singen können viele. Aber wirklich aus der Seele sprechen, ganz tief in sich hineinschauen und das nach außen zu transportieren, ist eine seltene Gabe. Melody Gardot besitzt diese Gabe seit sie 2008 ihr wunderbares Debüt Worrisome Heart veröffentlichte. Wahrscheinlich sogar schon lang davor.

Seit 16 Jahren bezaubert sie die Jazzwelt mit ihren leichtfüßigen, immer auch ein wenig bittersüßen Betrachtungen der Welt um sie herum. Ihre Songs schreibt sie überwiegend selbst, ihre Palette gestaltet sie so bunt und abwechslungsreich wie sie das möchte. Klar ist sie im Jazz verwurzelt, ist aber mindestens genau so ein Kind des Blues und eine große Bewunderin der großen Songwriter-Schule ihrer amerikanischen Heimat. Pop garniert manche ihrer Songs wie eine Sahnehaube, kunstvoll verwebt sie Folk oder lateinamerikanische Aromen.

Gefesselt ans Krankenhausbett

Lieder wie C’est Magnifique tänzeln Bossa Nova, Baby I’m Fool ist feinster Hollywood-Jazz wie aus einer The Great Gatsby-Verfilmung, selbst ein Klassiker wie Over The Rainbow wird in ihren Händen weich wie Kerzenwachs. Das Besondere an ihrer Musik ist aber nicht nur ihre Stimme, sondern ihre sanfte, beinahe scheue Art. Das hat einen überaus ernsten Hintergrund: Im November 2003 wird Melody Gardot, damals 18, auf dem Heimweg mit dem Fahrrad von einem SUV angefahren. Sie erleidet schwere Verletzungen an Kopf und Wirbelsäule, ist ein ganzes Jahr an ein Krankenhausbett gefesselt. Bis heute ist sie überempfindlich gegenüber Licht und Geräuschen. Die Musik, die sie macht, reflektiert das – geschrieben für leise Momente in schummrigen Clubs.

Die Musik ist es, die sie ins Leben zurückholt. Anfangs leidet sie unter dem Verlust von Kurz- und Langzeitgedächtnis, hat Probleme mit ihrem Zeitgefühl. Ermutigt von einem Arzt, der an die heilende Kraft der Musik glaubt, beginnt Gardot erst zu summen, dann zu singen und Songs zu schreiben. Ihre erste EP Some Lessons schreibt sie am Krankenbett, nutzt die Musik als Therapie, um ihren Schmerz und ihre Not in etwas Positives umzuwandeln. Dass die Musik überhaupt nicht düster klingt, ist durchaus erstaunlich. Die dramatische Schwere mancher Songs, die nostalgisch-melancholische Aura müssen aber zumindest nicht erklärt werden. „Als jemand, der sehr lange Zeit nicht sprechen konnte, habe ich den Wert von Worten gelernt“, meint sie dazu. „Ich behaupte zwar nicht, dass das, was ich tue, von besonderer Bedeutung ist, aber ich wähle die Worte, die ich spreche, bewusst sehr sorgfältig.“

24 essentielle Stücke, darunter zwei unveröffentlichte

Weniger als zwei Jahre nach diesem schweren Unfall gibt sie am 8. August 2005 ihr Live-Debüt in New York City. Und schaut seither nicht zurück: Sechs Alben hat sie seitdem veröffentlicht. Ihr letztes, eine Kollaboration mit dem brasilianischen Pianisten Philippe Powell, erscheint wie ihre Werke davor beim legendären Label Decca. Sehr viel zauberhaftes Material für The Essential also. Diese erste Zwischenbilanz bündelt 24 Songs, sorgfältig kuratiert zwischen den Highlights ihrer Alben, einiger Remixe und zweier unveröffentlichter Aufnahmen. Einer der klaren Höhepunkte ist das dräuende, in sich selbst versunkene First Song von Charlie Haden, das Gardot bereits vor 2014 mit dem legendären Kontrabassisten aufgenommen hat.


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„Ich habe eine alte Seele“

Ihre Heimat Amerika hat sie inzwischen für Paris verlassen. Und natürlich passt eine Melody Gardot auch viel besser in diese Stadt der Lichter, in der Jazz und Chanson eine uneingeschränkte Hauptrolle spielen. Hier wandelt sie durch die Gassen, hier singt sie mit dieser unbegreiflichen Stimme, die zugleich alt und jung klingt, zeitlos im besten Sinne. „Ich habe eine alte Seele“, sagt Melody Gardot dazu. Und genau darauf kommt es für sie an: „Die Schönheit von uns allen liegt in unseren Seelen. Eine Stimme ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was die Seele sein könnte. Ich denke, die Stimme ist das, was einer Seele in ihrer reinsten Form am nächsten kommt.“

Musik ist ihre Luft. Ihr Lebenselixier. Das sind nicht nur leere Worte. Es ist die Wahrheit. Das macht ihre Songs so kostbar, so zerbrechlich und zugleich so belebend. „Meine Vorstellung von Musik unterscheidet sich von dem, was in der heutigen Welt im Vordergrund stehen mag“, sagt sie. „Ich denke, dass die Melodie das Wichtigste ist, das Allerwichtigste. Die Musik muss dem gerecht werden. Wir alle dienen nur dem Lied. Das war die Art von Denken, die einen Louis Armstrong unsterblich gemacht hat.“ Das ist auch die Art von Denken, die sie unsterblich machen wird.

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