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Review: Auf „Harlequin“ wird Lady Gaga endgültig zu Harley Quinn

Bevor sie ihr nächstes reguläres Album entfesselt, bleibt Lady Gaga noch ein bisschen länger in character – und begeistert mit den funkelnden, verstörenden Pop-Standards von Harlequin, dem offiziellen Begleitalbum zur Joker-Fortsetzung Folie à Deux.

Lady Gaga und die großen Pop-Standards des American Songbook, das ist eine Liebesgeschichte wie keine zweite. Sie hat Jazzgesang studiert, hat mit dem großen Tony Bennett gleich zwei grandiose Alben voller geliebter, funkelnder Standards aufgenommen – und darf sich auch in ihrer Rolle als geistig verwirrte, wahnhafte Harley Quinn in der mit Spannung erwarteten Joker-Fortsetzung Folie à Deux zwischen ikonischen amerikanischen Songs ausleben.

Pathos und Wahn

Das gefiel der Ausnahmekünstlerin wohl so gut, dass sie entschieden hat, noch ein wenig in der Rolle von Harley Quinn zu bleiben. „Ich hatte eine so tiefe Beziehung zu Quinn“, erzählt sie dem Rolling Stone. „Und als ich mit den Dreharbeiten fertig war, war ich noch nicht mit ihr fertig.“ Also gibt sie dem Film ein Begleitalbum mit auf dem Weg. Das heißt schlicht Harlequin, besteht aus elf Standards und zwei neuen Songs und schafft es auf brillante, verstörende Weise, Pathos und Wahn ihres psychotischen Charakters in die Songs einfließen zu lassen. Es ist, als ob unter der glitzernden, funkelnden Oberfläche aus Big-Band-Brimborium, altem Hollywood-Charme und ihrer grandiosen Stimme stets eine Fratze lauert, ein Abgrund.

Der Clou ist aber eben: Man merkt es nicht sofort. Der Opener Good Morning, eine Coverversion des Klassikers von Judy Garland und Mickey Rooney aus dem fernen Jahr 1939, setzt wie im Film zunächst überschwänglich die Szene mit Bläsersätzen, einem flotten Klavier und einem dröhnenden Kontrabass. Gaga hat alles unter Kontrolle und hüpft mit Schwung durch den Song. Man hört ihr den Spaß an, ebenso wie man ihr auf der Leinwand den Spaß an solch einer schwierigen Rolle anmerkt.

Klassiker mit bedrohlicher Aura

Sicher, der Opener und die anderen Songs sind relativ offensichtliche Picks, tausendfach gecovert und jedem:jeder US-Amerikaner:in in die Wiege gelegt; das genau macht aber eben den doppelbödigen Reiz dieser Stücke aus. Sie werden von Harleen „Lee“ Quinzel alias Harley Quinn gesungen, der Psychologin, die dem Joker verfällt und sich auf eine missbräuchliche, toxische Beziehung mit ihm einlässt. Das schwingt auch in den fröhlichsten Momenten mit – ein mehr als genialer Schachzug.

Herausragend ist Harlequin immer dann, wenn man den Kontext eines Songs durch ihre Darbietung und Rolle neu bewertet. Da ist etwa Smile, der Charlie-Chaplin-Klassiker, der nach Nat King Cole, Barbra Streisand oder sogar Michael Jackson eigentlich mittlerweile unmöglich zu covern ist. Doch Lady Gaga erfindet den Klassiker neu, gestaltet ihn melancholisch und flößt ihm eine bedrohliche Aura ein. So hat man diesen eigentlich liebenswerten Klassiker noch nie gehört.

„Egal, was ihr von mir wollt, ich werde ich selbst sein“

„Wir haben viel darüber gesprochen, dass Harley unberechenbar ist“, so Gaga zu der unterschwelligen Düsternis der Songs. „Im Grunde will ich damit sagen: ‚Als Frau entscheide ich mich dafür, zu sein, was und wer immer ich in einem bestimmten Moment sein möchte, egal wie ich mich fühle. Und egal, was ihr von mir wollt, ich werde ich selbst sein.‘“ Das merkt man auch If My Friends Could See Me Now an, diesem Showstopper von 1966. Was als stimmungsvolle, emotionale Ballade beginnt, kippt schon bald in eine turbulente, verstörende Performance. Man hat den Eindruck, dass hier jeden Moment alles im Chaos versinkt, zerbricht, auseinanderfällt, um doch wieder von ihrer grandiosen Gesangsleistung zusammengehalten zu werden. Was für ein Trip!

Mit die denkwürdigsten Momente des Albums sind dann aber deutlich die beiden neuen Songs, die Gaga gemeinsam mit ihrem Verlobten Michael Polansky für Harlequin aufgenommen hat. Da ist Folie à Deux, eine glamouröse Walzerballade direkt aus der Anstalt, die einem ein extrem ungutes Gefühl gibt und einen Chor einsetzt, der einen bis in seine Träume verfolgt; und das dramatische, verletzliche Happy Mistake, schlichtweg einer der besten Songs, den sie je geschrieben hat. Als Gewinner geht dennoch The Joker nach Hause, die beste Neuinterpretation des Albums. In Gagas Händen wird der Musical-Song von 1964 zu einem furiosen Rocksong mit wütenden Gitarren und stampfenden Drums, für den sie stimmlich auf die Knie geht. Auf so einen Titelsong wäre auch ein James Bond neidisch.

Moderne Interpretation von Vintage-Pop

„Wir wollten ein Album kreieren, das ihre Vielschichtigkeit durch die Linse vieler Musikstücke aus dem Film sowie durch Eigenkompositionen zelebriert, das ihre ganze Bandbreite als Frau berührt – ihre Dunkelheit, ihr Chaos, ihre Lebendigkeit, ihre manische Natur - und eine moderne Interpretation von Vintage-Pop schafft“, so Gaga im Rolling Stone. Operation geglückt, kann man da nur sagen: Wir haben jetzt noch mehr Respekt vor Harley Quinn als eh schon.

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