Fast 30 Jahre mussten wir auf den Nachfolger der Archiv-Kompilation Tracks warten. Jetzt ist Tracks II: The Lost Albums da – und bietet ganze sieben Alben voller unveröffentlichter Bruce-Springsteen-Songs. Eine historische Veröffentlichung.
In den frühen Neunzigern steckt Bruce Springsteens Karriere in einer Sackgasse. Die E Street Band hat sich aufgelöst, die Zukunft erscheint ungewisser als seit Jahren, das Zwillingsalbum Lucky Town/Human Touch konnte nicht so recht begeistern. Dann landet der Boss 1994 ausgerechnet mit Streets Of Philadelphia einen seiner größten Hits überhaupt. Grammy, Oscar, der Titelsong des gleichnamigen Films setzt ihn mit Nachdruck zurück auf die Landkarte.
Und Springsteen? Schreibt gleich ein ganzes Album in diesem Stil. In seinem Studio in Los Angeles brütet er über Drum-Loops und Synthesizern und entwirft ein Album, das anders klingt als alles, was er davor geschrieben hat. Es wird allerdings nie veröffentlicht. 1995 trommelt er die E Street Band wieder zusammen, mit The Ghost Of Tom Joad findet er wieder zu seinem ikonischen Americana-Storytelling zurück. Dieses verlorene Album aber, es blieb verloren. Bis jetzt: Auf seinem zweiten Archiv-Tauchgang Tracks II ist es endlich zu hören – und das neben ganzen sechs weiteren unveröffentlichten Alben.
Springsteen und die Straßen Philadelphias
Für Springsteen-Fans ist der heutige Erscheinungstag natürlich so etwas wie ein Hohefest. 84 unveröffentlichte Songs, neun Vinyl, über fünf Stunden Musik, die man vom Boss noch nie gehört hat. Klingt nicht nur spektakulär – ist es auch. Allein Streets Of Philadelphia Sessions, jenes legendäre „Hip-Hop-Album“ des Meisters, ist eine Offenbarung: ein melancholisches Album voller brütender Songs über zerrüttete Beziehungen, nackt, roh, ungeschönt. Sowohl in seinem einleitenden Begleittext zum Box-Set als auch in einem der Essays von Erik Flanagan, die jedem einzelnen Album beiliegen, erklärt Springsteen, dass er sich gegen die Veröffentlichung entschieden habe, weil er nicht sicher war, ob seine Kernfans so ein Album akzeptieren würden. „Ich habe mit einem Genre experimentiert, das normalerweise nicht zu meinem Repertoire gehört“, erklärte er da. Schade eigentlich. Es wäre spannend zu sehen, was ein Album wie dieses mit seiner Karriere in den Neunzigern gemacht hätte.
Der Taylor Swift seiner Zeit
Sei’s drum. Jetzt haben wir es ja. Und noch so viel mehr: Tracks II ist, anders als sein Vorgänger, eben nicht einfach eine Veröffentlichung voller unzusammenhängender Songs. Sondern eine Sammlung ganzer verlorener Alben. Das hat ja wieder einen ganz eigenen Reiz. Das hier sind abgeschlossene Projekte, vollständig konzipiert und aufgenommen, aber dann irgendwie durch die Ritzen gefallen und liegengeblieben. Eine größere Schatzkammer kann es für Fans nicht geben – zumal bei Springsteen selbst das verlorene Material besser ist als die meisten tatsächlich veröffentlichten Songs von gestern und heute.
„Ich habe meine Alben immer mit großer Sorgfalt veröffentlicht und darauf geachtet, dass meine Erzählungen aufeinander aufbauen“, sagt der Boss. „Die Alben in dieser Sammlung passten nicht so recht in diese Erzählung, meinen kreativen Bogen.“ Man kann es auch so sagen: Springsteen war der Taylor Swift seiner Generation, ein selbstbewusster Kontrollfreak, der der Öffentlichkeit ordentlich verpackte Äras seiner persönlichen Entwicklung präsentieren wollte.
Soundtracks, Pop und Italo Western
Und jetzt eben ein Nachsehen hatte. Fans der alten Schule ergötzen sich an den überwiegend akustischen L.A. Garage Sessions '83, in denen uns ein Springsteen irgendwo zwischen Nebraska und Born In The U.S.A. begegnet. Somewhere North Of Nashville bietet zwölf Rockabilly- und Country-Songs, die 1995 parallel zu der düsteren Dust-Bowl-Chronik The Ghost Of Tom Joad aufgenommen wurden. Twilight Hours enthält ein Dutzend orchestrale Popstücke im Easy-Listening-Stil, ein bisschen Frank Sinatra und ein bisschen Burt Bacharach. Der unveröffentlichte Soundtrack Faithless begeistert mit ahnungsvoller Stimmung und Inyo ist dann sogar irgendwie so was wie Springsteens Italo-Western-Album.
All diese Songs stammen aus den Jahren 1983 bis 2018. 35 Jahre, die selbst nur anhand dieses Archivmaterials klarmachen, was für ein gottverdammtes Genie dieser Bruce Springsteen ist. Wir können froh sein, ihn zu haben. Und noch froher, dass er seine Archive entrümpelt hat. Übrigens: Tracks III soll dann nicht so lang auf sich warten lassen.