Featured Image
Foto: Ramy Moharam Fouad

Trauerarbeit in 10 Titeln: Tamino im Gespräch zu „Every Dawn’s A Mountain“

Schwer und doch voller Lichtblicke: Tamino hat mit  Every Dawn’s A Mountain  einen Schrein aus Erinnerungen gebaut. Im Interview sprechen wir über Trauer, Hoffnung und das ewige Kind in ihm. 

Es ist ein feinfühliger, ruhiger Einstieg in das dritte Album von Tamino-Amir Moharam Fouad, kurzum Tamino. Tamino ist ein Alben-Künstler durch und durch, der sich aufs Geschichtenerzählen versteht. Zu seinen Idolen gehören Leonard Cohen, aber auch seine eigene Familie. Denn Tamino ist der Enkel des ägyptischen Sängers Muharram Fouad, und trotz einer schwierigen Familiengeschichte scheint der Belgier in seiner Musik immer wieder auf den Fährten seiner Vorfahren zu wandeln. Mit dieser Mixtur der Musikkulturen, aber vor allem mit seiner sehnsüchtigen Stimme, die es vermag, die Art von langen zarten Schatten nachzumalen, die nur eine pritzelnde Abendsonne zieht, ist Tamino berühmt geworden und berührt sein Publikum.

Gestochen scharf ist die Stimme von Tamino, wenn er die ersten Noten seines neuen Albums Every Dawn’s A Mountain anstimmt. In diesen Takten vom Opener My Heroine wird klar: Dieses Album markiert ein Ende und besiegelt gleichwohl Schmerz und glühende Erinnerungen. Dabei singt Tamino mit seiner wohligen Bruststimme und lässt das starke, schmerzerfüllte Falsett, für das er berühmt ist, ein wenig zurück. Die Worte stehen im Zentrum, Worte des Erinnerns, der Zuneigung und des Abschieds. „Das Album entstand diesmal aus einer Dringlichkeit. Ich hatte keine andere Wahl, als dieses Album ganz genauso zu machen, wie es jetzt ist“, erzählt der Miusiker bei einem Interview in Berlin. „Ich hatte das Bedürfnis, etwas Verlorenes zu würdigen und zu ehren. Ich wollte dem ein Podest bauen und musste das auch sofort und genau zu diesem Zeitpunkt tun.“ Deshalb entstand das Album sowohl auf Tour als auch in seinem neuen Zuhause New York und kommt mit Dringlichkeit daher.

Die Vorahnung lag bereits in der Luft, dass New York die Heimat des belgischen Musikers werden würde und so beheimatete die Großstadt, in der alle und niemand einen Platz finden können, auch die ersten Songskizzen von Every Dawn’s A Mountain. „Ich habe mich nie so richtig irgendwo zu Hause gefühlt. Schon als ich das erste Mal in New York war, habe ich gemerkt, dass diese Stadt etwas mit mir macht. Ich gehöre dort hin“, beschreibt Tamino die Metrolpole. Nach Monaten der Tour und nach mehreren Jahren zwischen Amsterdam und Antwerpen konnte hier wieder etwas Neues gedeihen. Dass das Album auch diese geografische Trennung vollzieht, ist sinnbildlich. Denn so gesehen ist es auch ein Abgesang auf sein altes Leben in der niederländischen Hauptstadt. „Es war auf jeden Fall eine rastlose Zeit in der Hinsicht, dass dieses Podest sofort gebaut werden musste. Ich musste erst diesen Schrein errichten und alles ehren, was ich verloren hatte und was damit zu tun hatte…“, er pausiert, “ …auch um weiterzumachen.“ Vielen Titeln merkt man diesen Wunsch abzuschließen an, denn sie strahlen in ihrer Zerrissenheit zwischen Liebe und Wehmut. 

Es ist bereits das zweite Tamino-Album, das sich im Titel dem Sonnenaufgang widmet. Der Vorgänger Sahar (im Arabischen bedeutet der Name „kurz vor der Morgendämmerung“) fokussierte sich ebenfalls auf diesen Moment. Der Titeltrack Every Dawn’s A Mountain ist dabei ein richtiges Herzstück des Albums. Die Gitarre erinnert besonders stark an Leonard Cohen und Tamino beginnt die Strophe mit seiner tiefen Bruststimme, die fast ein bisschen wegbricht. Im Hintergrund singen Frauenstimmen sirenenartig, während er über Neuanfänge nachdenkt und mantraartig wiederholt: „I’m holding on“. Was ist es, das Tamino so nachhaltig am Sonnenaufgang festhalten lässt, dass er nun sogar schon ein zweites Album danach benennt? „Ich denke gerne in Kreisläufen und wir Menschen brauchen das ja auch irgendwie: Jahre, Monate, Wochen und eben Tage. Jeden Morgen kriegen wir die neue Chance, unser Leben anzugehen. Und die Dämmerung ist ein Moment, in dem zwar viele Möglichkeiten stecken, aber manchmal auch ein Berg vor einem auftaucht, den es zu bezwingen gilt.“ Er denkt weiter darüber nach und landet bei dem Schluss: „Der Sonnenaufgang kommt immer wieder und fügt sich ein in den Kreislauf, der das Leben würdigt. Es steckt so viel Sinnhaftigkeit in diesem Moment.“

Tamino und die Oud

Andere Titel hingegen sind eher Momentaufnahmen, aufflammende Erinnerungen. So zum Beispiel Sanctuary , das sachte Duett zwischen Tamino und Mitski . Die beiden Stimmen umgarnen einander in diesem Frühlingstanz. Wie auch schon auf dem letzten Album werden die Titel dabei von der Oud begleitet. Obwohl Tamino schon seit seiner ersten EP Habibi mit der Fusion von westlicher und ägyptischer Musik spielt, hat der Musiker erst im Prozess des vergangenen Albums gelernt, selbst die Oud, also den arabischen Vorläufer der westlichen Gitarre, zu spielen.

In einem älteren Interview hatte Tamino erzählt, wie er beim Anblick des Instrumentes oft an seinen Vater denken musste. Dieser hatte sie zurückgelassen, als sich seine Eltern getrennt haben – Tamino war damals drei Jahre alt – und deshalb sei die Oud auch immer ein Symbol dessen gewesen. Seinen Vater hat er erst Jahre später mit elf wiedergesehen. Wie schaut er heute auf das Instrument, das ins Zentrum seiner Kompositionen gerückt ist? Er überlegt: „Ich schaue sie auch jetzt noch oft mit den Augen eines kleinen Jungen an. [...] Die ganze Auseinandersetzung mit meiner Herkunft, den Wurzeln und den Einflüssen, vor allem auch meines Vaters, geschehen mit den Augen eines kleinen Jungen. Das Verhältnis zu meiner Herkunft ist immer noch voller Fragen und auch belegt mit Trauer und Schmerz.“ Das sagt Tamino, ohne dabei bitter zu wirken, sondern mit einer sanften Ruhe. Ein schönes Bild, denn schließlich ist seine Musik im Grunde der größte Ausdruck dieser Erkundungsreise. „Erwachsen werden heißt, seinen Eltern zu verzeihen und vielleicht sogar sie zu verstehen“, schiebt er lachend hinterher.

Ein Kreis schließt sich

Tamino scheint auf Every Dawn’s A Mountain eine zärtliche Facette zu entdecken. Zwar war seine Musik schon immer sehr gefühlvoll, doch greift er hier viel öfter zu nachdenklichen Tönen und nimmt seine Stimme, die man bisher als stark und intensiv kennengelernt hat, zurück. Einen Moment des Ausbruchs gibt es nur in der treibenden Single Babylon. Auf anderen Songs wie Willow tritt sogar die musikalische Begleitung in den Hintergrund. Eine vorsichtige Stimmung hält das Album zusammen: Als würde Tamino hier etwas Zerbrechliches besingen, ein Wolkenschloss, das sich auflösen könnte, sobald er seine engelsgleiche Stimme zu sehr anspannt. „A line dissolves between each dawn, That I will come to grieve as my own“, singt er leise in dem Titel Dissolve, der das Album (fast) abschließt. Der Kreislauf, den Tamino schon beschrieben hat, verewigt er genau in diesem Lied.

Für den Musiker ist das der tatsächliche Schlusssong und das darauffolgende Amsterdam eher ein Epilog. „Dissolve ist der Moment, an dem Ruhe und Frieden einkehren. In Amsterdam kehre ich dann quasi zurück an den Ort, wo alles begann und erlebe alles mit neuen Augen.“ Tamino sagt, er hätte dieses Album gebraucht, um weiterzumachen und loszukommen. Und die Kombination dieser letzten Titel macht das mehr als deutlich. Etwas wird losgelassen, alle Gefühle wurden gefühlt und die Trauer hat einen geformt. Schließlich gemeinsam mit Tamino durch Amsterdam zu gehen, ist wahrscheinlich der wertvollste Moment dieses Albums, denn bei all dem Schmerz und all der Trauer endet der Sänger bei einem Hoffnungsschimmer. Für all die Momente, in denen man es für unmöglich hält, dass man jemals weitermachen kann, gibt es nun die Symbiose dieser zwei Titel, die zeigen: Es geht weiter, und trotzdem behält man all die Erinnerungen und Momente in sich. Man findet ein neues Zuhause, einen neuen Ort, ist bereit für neue Erinnerungen und irgendwann tut der Verlust nicht mehr ganz so schrecklich weh, sondern koexistiert. 

Weiter stöbern im Circle Mag: