
Zwischen Haltung und Hype: Warum das Primavera Sound Festival zu den relevantesten in Europa gehört
popkultur18.06.25
293.000 Besucher:innen, 311 Shows, sieben Tage Musik: Die diesjährige Ausgabe des Primavera Sound Festivals in Barcelona markiert nicht nur ein weiteres Highlight, sondern spiegelt zugleich ein zentrales Spannungsfeld der internationalen Festivallandschaft wider. Während sich das Primavera Sound seit Jahren als progressiver Gegenentwurf zu ähnlichen Festival-Riesen positioniert, zeigt sich immer deutlicher: Auch ein Event, das auf ökonomische Realitäten und eine boomende Festivalindustrie baut, kann Platz halten für Diversität, Haltung und musikalische Innovation, wenn es möchte.
Kuratiert und kalkuliert: Die Programm-Philosophie
Das Booking des Primavera Sound gilt zurecht als eines der spannendsten in Europa. Wo andere Festivals auf vorhersehbare Headliner setzen, dominiert hier Vielfalt: Queere Acts wie Chappell Roan und Troye Sivan stehen neben female Pop-Größen wie Charli xcx oder Haim; experimentelle Artists wie FKA Twigs teilen sich das Line-up mit politischen Bands wie IDLES und Fontaines D.C.
Obwohl das Buchen von Chappell Roan, Troye Sivan oder Charli xcx längst kein riskanter Move mehr ist, sondern eher klares Kalkül, den aktuellen Pop-Zeitgeist präzise abzubilden, zeigt das Primavera Sound auch seine anderen Seiten. Das Festival positioniert sich geschickt an der Schnittstelle zwischen kultureller Relevanz und kommerziellem Massengeschmack. Das Booking bleibt progressiv, ist aber gleichzeitig ein Spiegel dessen, was derzeit auf TikTok, Spotify und in den globalen Pop-Algorithmen am stärksten funktioniert.
Diversität auf der Bühne – und davor
Besonders sichtbar wird diese Programmpolitik aber nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum. Denn ein diverses Line-up erzeugt zwangsläufig auch ein diverses Publikum. Während andere europäische Großfestivals im Jahr 2025 zum wiederholten Mal Papa Roach, The Offspring oder die immergleichen Indie-Dinosaurier verpflichten, regierten in Barcelona in diesem Jahr eindeutig die Girls, Gays and Theys. Das Primavera-Publikum ist jung, queer, international und unterscheidet sich damit deutlich von der oft männlich dominierten, konservativeren Festival-Kultur der Konkurrenz. Der Altersdurchschnitt lag 2025 bei 29 Jahren, die Geschlechterbalance im Publikum war nahezu ausgeglichen, was laut Veranstalter im Line-up schon seit 2019 der Fall ist.
Diese bewusste Publikumsentwicklung ist längst Teil des Markenprofils geworden. Das Primavera verkauft neben der Musik zusätzlich ein Lebensgefühl, in dem sich eine neue Generation von Festivalbesucher:innen wiederfindet.
Politik: Haltung mit Spielraum
Ein Bereich, dem das Primavera Sound weiter die Stange hält, bleibt der Umgang mit gesellschaftspolitischen Themen. Politische Äußerungen der Artists werden nicht nur geduldet, sondern explizit geschützt. In diesem Jahr sorgten Statements wie die „Viva Palestina“-Rufe der Band IDLES oder Projektionen auf der Bühne von Fontaines D.C. für Kommentare. Auch Palästina-Flaggen waren auf dem Gelände unkommentiert erlaubt, im Rahmen des Programms Unsilence Gaza wurde palästinensischen Künstler:innen Raum gegeben, eine Installation direkt am Eingang des Geländes umzusetzen.
Die Festivalleitung betont: Politik im Fesitval einzubauen sei kein neues Thema für das Primavera. Bereits im Vorjahr gab es eine Zusammenarbeit mit verschiedenen Projekten. So geht beispielsweise auch 2025 das nicht wieder eingeholte Pfand für Tickets des Opening und Closing Days an non-profit Projekte der Primavera Sound Foundation und andere Initiativen wie die La Loma Horse Home Foundation und Casa Nostra, Casa Vostra . Damit nimmt das Primavera Sound eine politische Haltung ein, die sich bewusst von der Neutralitätsrhetorik anderer Großveranstalter abgrenzt.
Gleichzeitig bleibt die Bühne für diese Themen aber vor allem den Künstler:innen überlassen. Das Festival selbst positioniert sich zwar offen, wahrt aber einen gewissen Spielraum, um sowohl politisches Profil zu zeigen als auch internationale Partner:innen, Sponsor:innen und ein globales Publikum zu unterhalten.
Die kommerzielle Realität
Denn auch das gehört natürlich zur Wahrheit: Primavera Sound ist Big Business. Mit rund 71.000 Besucher:innen täglich und insgesamt 293.000 Gäst:innen über die Festivalwoche hinweg zählt es zu den größten Festivals Europas. Mehr als 900 akkreditierte Journalist:innen berichteten in diesem Jahr vor Ort. Sponsoring-Partnerschaften mit großen Marken wie Revolut, Pull and Bear, Aperol oder Levis sichern den wirtschaftlichen Rahmen und machen das kuratorische Konzept überhaupt erst finanzierbar.
Dabei erweitert das Primavera Sound kontinuierlich sein städtisches Konzept: Das parallellaufende Primavera a la Ciutat wird mit zahlreichen Konzerten in kleinen und mittleren Clubs der Stadt systematisch ausgebaut. Das Festival wird so noch stärker in den urbanen Raum integriert und setzt bewusst auf eine dezentrale Festivalarchitektur.
Primavera Sound: Ausnahme oder Vorbild?
Im europäischen Festivalbetrieb bleibt das Primavera Sound eine Ausnahmeerscheinung: progressiv, politisch, divers und zugleich professionell durchkommerzialisiert. Dieser Balanceakt ist nicht frei von Widersprüchen, aber er zeigt, dass Haltung und wirtschaftlicher Erfolg sich zumindest bedingt miteinander vereinbaren lassen. Das Primavera Sound verkauft gemeinsam mit den Tickets ein kulturelles Versprechen: dass auch große Festivals ihr Publikum hören, lesen und verstehen können.