Introspektiver Post-Punk, Geschichten aus der DDR und filmische Instrumentals: Betterov präsentiert mit Große Kunst sein ambitioniertestes Werk bisher. Wird es dem Titel gerecht?
Große Kunst. Wer so einen Albumtitel wählt, ist sich der Angreifbarkeit dessen hoffentlich bewusst und sollte das Augenzwinkern nicht vergessen. Bei Betterov muss man sich da aber eigentlich keine Sorgen machen; er ist ein Künstler, der subtilen Witz und Subtext versteht – und Selbstreflexion ist ohnehin eine seiner Stärken. Große Kunst demonstriert das in seinen vielfältigen persönlichen Einblicken, sowohl aktuellen als auch lang vergangenen.
Mutter, Vater, Kind
Dass auf Betterovs neuem Album beispielsweise in der Familienvergangenheit gekramt wird, wusste man spätestens seit der Doppelsingle 17. Juli 1989 / 18. Juli 1989. Darin erzählt der Indie-Musiker im ersten Teil die Geschichte seines Vaters, der eines Tages aus der DDR in den Westen floh; und im zweiten Song bekommt man die Perspektive von Betterovs Mutter auf die Tage der Flucht ihres Mannes.
Auch wenn Betterov diese Geschichte nicht selbst erlebt hat, merkt er, dass sie ihn noch bis heute prägt. Daher singt er im Refrain: „Heute trag‘ ich diesen Namen / Sie kommen zu mir auf der Straße: ‚Neulich warst du doch im Fernsehen, da haben wir dich gesehen. / Jetzt vergiss nicht, wo du herkommst.‘ Und ich frag mich: Wie soll das gehen?“ Fazit: Man kann und sollte die eigene Familiengeschichte nicht ausblenden. So gerät das Song-Duo nicht zur schlichten Geschichtsstunde, sondern zum Bezug auf Betterovs persönliche Gegenwart.
Ähnlich ist das beim Song Papa fuhr immer einen großen LKW. Wieder tritt Betterovs Vater auf, diesmal aber in seiner Arbeit als Trucker. Als kleiner Junge fuhr Betterov nämlich oft mit seinem Vater im LKW mit und war ganz fasziniert von dieser Welt. Aber sein Vater gab ihm mit, sich einen Job zu suchen, der ihn nicht körperlich kaputtmache – denn dieses Privileg haben nicht alle. Dann, als Betterov Jahre später im Tourbus liegt, fühlt er sich plötzlich an die langen Fahrten seines Vaters erinnert und erkennt, wie unterschiedlich doch ihre Lebenswege verlaufen sind, was in diesen kleinen Parallelen umso stärker hervortritt.
Große Kunst fürs Plattenregal:
Ohrwürmer versus musikalische Filme
Spannende Geschichten sind es, die Betterov auf Große Kunst erzählt, und solche wollen treffend untermalt werden. Gelingt das? Musikalisch ambitioniert und größer aufgefahren als Betterovs Vorgänger ist es auf jeden Fall, das macht bereits die Streicher-besetzte Ouvertüre von Anfang an klar. Diese Klassikeinflüsse treten immer wieder auf und sind wie das Bindeglied zwischen den verschiedenen Stilen der Songs. Egal ob zackiger Post-Punk oder langsamer Chamber Pop, die Streicher erinnern die Hörer:innen: Das gehört alles zu einem großen, filmischen Werk.
So unmittelbare Pop-Hits wie früher sind da nicht mehr dabei, aber das ist prinzipiell nichts Schlimmes. Allein der Titel Große Kunst macht ja klar: Es geht hier vor allem ums Gesamtwerk, ums Storytelling, und das ist auf jeden Fall das, was hängen bleibt. Songs wie der Titeltrack kriegen aber auch den Spagat zwischen catchy und erzählerisch, zwischen Melodie und Atmosphäre gut hin.
Die poppigsten Momente sind dann die, die nicht auf alte Geschichten setzen. Gerade die ersten Tracks gehen eher auf Betterovs aktuelle Gedankenwelt ein, bevor er sich in die Storytelling-Schiene des Albums begibt. Auch am Ende geht es mit In meinem Zimmer spielen sich Dramen ab wieder zurück in Betterovs psychische Reflexionen. Dieses Gefühl, im eigenen Kopf gefangen zu sein, drückt er hier schön aus und es ist auch einer der musikalisch hookigsten Songs des Albums.
Große Ambition, großes Potenzial
Was man Große Kunst zugutehalten muss, ist, dass es ein ambitionierter, großer Schritt ist, der viel mehr von Betterov zeigt. Vor allem lyrisch brilliert er hier. Geschichten wie das Aufeinandertreffen mit einem Hund aus der Vergangenheit in Hier wache ich sind simple Momente seines Lebens, die er aber so eindringlich beleuchtet, dass dadurch spannende, weitergesponnene Fragen mitschwingen – in diesem Beispiel etwa über Freiheit, soziale Rollen und Unterdrückung der Individualität. Was man also vom Album mitnehmen sollte, ist Potenzial. Die ganz Große Kunst mag Betterov vielleicht noch nicht erschaffen haben, aber es gibt die Vorahnung, dass so ein Werk noch in ihm steckt. Und für viele liefert er das hiermit schon.