Die perfekte Welle. Was war los, als Britpop vor zwanzig Jahren die Popkultur auf den Kopf stellte? Britpop kam, sah und siegte. Nach fünf wilden Jahren war er in England vorbei und blieb präsent im Stadionrock von
Keane, Kaiser Chiefs, und Konsorten. Heute wirkt er im Indie-Rock-Pop von Maximo Park und Bastille nach. Es wird Zeit für ein Revival!
Digging deeper...
Ein Glück, dass England seine Popkultur hat! Schon öfter halfen dort die Musiker der ganzen Nation wieder auf die Beine. Die
Mods mischten das erstarrte England der Nachkriegszeit auf. Vor Punk und New Wave lag die Nation am Boden, und den Beginn der 1990er prägten erneut übelste Seifenopern im TV, schlimmstes Gesäusel im Radio, Massenarbeitslosigkeit und eine kaltschnäuzige Klassengesellschaft. Plötzlich kommen diese ganzen neuen Bands. Sie sind jung, frisch, talentiert, smart und... very british: Ihre ironischen Songs singen sie mit Akzent. Sie tragen Mod-Haarschnitte und Klamotten von Fred Perry und Ben Sherman.
England wacht wieder auf aus dem Dornröschenschlaf. Ein ähnliches Gefühl wie hier bei der WM 2006, als aus Deutschland `Schland wurde. Ach, ja: den Einzug des Fußballs in die Popkultur kann man in der Britpop-Ära verorten, deren Songs vom Leben der einfachen Leute handeln. Es geht um Alltägliches wie Fish & Ships-Läden und Bushaltestellen, Pauschaltourismus und Pubs (klar, dass Britpop in Nebraska nicht wirklich groß wurde). Pulps Jahrhundertsong "Common People" brachte es auf den Punkt.
Proto-Bands von Britpop waren die Stone Roses und die Happy Mondays aus Manchester. Sie verschmolzen zum Ende der 1980er den Indie-Rock der Smiths mit
Acid House. Der Hacienda-Club in Manchester wurde zum Berghain seiner Ära. Das Phänomen ging als "Madchester" in die Musikgeschichte ein, wurde dann unterbrochen von einer american invasion, die da hieß: Grunge.
Nirvana fegten über England, hatten aber nichts zu tun mit der Lebenswirklichkeit britischer Jugendlicher, was zum Gesichtsverlust führte, der als Shoegazing bekannt wurde – Bands, die auf der Bühne weinerliche Songs singen und dabei auf ihre Schuhspitzen starren. Als die ersten Brit-Pop-Bands aufkommen und ihr Stil klar an britische Pop-Ikonen anknüpft – Suede an David Bowie; Shed Seven an The Smiths, Blur an die
Kinks; Pulp an Scott Walker und später Oasis an die
Beatles und die
Sex Pistols – da atmet die britische Musikpresse auf.
Britpop hätte auch als Revival in irgendeiner Nische landen können. Ähnlich wie das Mod-Revival der 1980er mit Bands wie
The Jam. Sie geben dem Britpop die Steilvorlage, der seinerseits dann unglaublich GROSS wird. Warum?
Die erste Weiche stellt der damals neue BBC-Radio-Controller Matthew Bannister. Ende 1993 feuert er quasi das gesamte Moderatoren-Team bei BBC-1 und engagiert dafür junge Radio-DJs (und Britpop-Fans) wie Steve Lamacq und Chris Evans. Das Musik-Magazin Select bringt kurz darauf Brett Anderson von Suede auf dem Titel, vor einem Union-Jack, mit der Überschrift: "Yanks go home". Ein Tabubruch! Die Macher werden als Sympathisanten der rechten National Front angefeindet. Allein der Wille, in die Charts zu kommen, erschien in der englischen Indie-Szene verdächtig. The Smiths definierten eine Generation, ohne je einen Song in die Top-10 gebracht zu haben, das schaffte erst ihr Leadsänger Morrissey mit seinem Debütalbum. Genau dort hin wollen die neuen Bands: "Ich finde es aufregend, dass die Leute uns hören", ruft Justine Frischmann, die Leadsängerin von Elastica aus. Im Fahrwasser ziehen Placebo, Ocean Colour Scene und Cast nach.
Britpop macht Auflage und Quote. Die Regenbogenpresse (die den Punk boykottierte und Indie-Rock ignorierte) hat endlich wieder neue Lieblinge. 1994, im Jahr des Selbstmords von
Kurt Cobain, treten Pulp als Haupt-Band auf dem Glastonbury-Festival auf. 1995 schießen neue Brit-Pop-Bands im Wochentakt aus dem Boden. Im Spotlight steht der wochenlange Hitparaden-Krieg zwischen Blur und Oasis. Beide Bands bringen die Leadsingles ihrer neuen Alben am selben Tag heraus. Über das Ereignis berichten die Abendnachrichten im englischen Fernsehen. In Reinkultur: diese angelsächsische Lust am Polarisieren, dem gegeneinander Antreten: auf welcher Seite stehst du? Beatles oder Stones?
The Who oder The Small Faces? et cetera (alle übrigens Paten von Britpop).
Doch damit nicht genug. Im britischen Wahlkampf sucht der Labour-Kandidat Tony Blair 1996 die Nähe zur Brit-Pop-Szene. Nach beinahe zwanzig Jahren Tory-Regierung ist Blair der Hoffnungsträger der jungen Briten, gewinnt zuerst die Sympathie der Britpopper ("gegen ihn zu sein, bedeutete ein Thatcherist zu sein", so Frischmann) und dann den Wahlkampf. Als Noel Gallagher zum Sekt-Empfang bei Blair in der Downing Street 10 aufkreuzt, markiert dies den Höhepunkt vom Medienschlagwort Cool Britannia und das Ende von Britpop. Welche Jugendkultur identifiziert sich mit einem Genre, das jeder gut findet, sogar der Prime Minister?
Was bleibt? Großartige, zeitlose Alben von Saint Etienne und "The Modfather" Paul Weller, von Stereophonics und so vielen anderen. Britpop war die gelungene Wiedergeburt des unnachahmlich trockenen britischen Lebensgefühls mit all seinem Working-Class-Witz und seiner Ironie, die es schon in "Shangri-La" von den Kinks gab oder dem Power-Pop von "The Who Sell Out". Britpop hauchte der britischen Popkultur neues Leben ein. Er war die letzte in sich geschlossene Jugendbewegung. Danach kam das Internet.
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