„Es gibt genug Popmusik und seichte Unterhaltung, die dazu dient, abzulenken“: SPRINTS im Interview
popkultur29.09.25
Während die Welt sich aktuell jeden Tag ein kleines bisschen mehr in Splitter zersetzt und wir uns nur noch mittels Verdrängung und Alltagsflucht durch die angespannte Weltlage manövrieren, wagt die irische Punkband SPRINTS die Flucht nach vorne. Ihr aktuelles Album All That Is Over macht eine neue Welt auf, aber eine dystopische. Was gerade erst qualmt, stecken SPRINTS an und sonnen sich im Flackern des Feuers. Im Interview sprechen wir über Literatur, Freundschaft, Angst und ihren Touralltag.
Wer sind SPRINTS?
SPRINTS nehmen ihren Bandnamen wirklich sehr, sehr ernst, denn schon ein Jahr nach ihrem Debüt erscheint nun ein zweites Album. Wann sie im Studio waren? Schwer zu sagen, denn sie waren fast unentwegt auf Tour – und das schon vor ihrem erfolgreichen ersten Album Letter To Self. Ich treffe sie in einem Hotel in Berlin am Mittag nach ihrem Support-Slot für Fontaines D.C. Augenscheinlich ging die Nacht nach dem Konzert noch weiter. Eine kissengroße Stofftier-Forelle im Arm, werde ich von der Band begrüßt. Sie erklären mir kichernd, dass es sich quasi um ihr Therapie-Stofftier handelt und sie es heute alle gut gebrauchen könnten.
Letter To Self war ein Post-Punk-Tornado, der sich um die Frontfrau Karla Chubb dreht: Ihre Reflexionen über ihr Großwerden als Frau, die aneckt, über ihren Stand in der Gesellschaft, in der Musikindustrie und in Beziehungen bringen sie zu allgemeinen Schlussfolgerungen. All That Is Over – das neue Album – tritt einen Schritt zurück, richtet den Blick nach Außen und SPRINTS zeichnen darauf eine lodernde Welt am Abgrund. „Es gibt genug Popmusik und seichte Unterhaltung, die dazu dient, abzulenken. Aber ich denke, es gibt viel Raum für Kunst und Kritik“, erklärt Chubb, als wir anfangen, über die Themen von All That Is Over zu sprechen. „Mit diesem Album wollten wir etwas schaffen, das eine eigene Welt ist. Wir haben es in Literatur, Videospielen, Filmen verankert und eine dystopische Art von Fiktion erschaffen.“
Dafür haben SPRINTS nicht nur lyrisch diese Welt zusammengeschustert, sondern vor allem ihren Sound erweitert. Es gibt neue elektronische Einflüsse (Massive Attack, Portishead) und sie haben den Post-Punk, den sie vorher auf ganzer Linie treu bedient haben, weitergedacht. Der Introtitel Abandon baut sich langsam auf und spielt mit einer bedrohlichen Atmosphäre, die sich über das gesamte Album hinweg zieht, an einzelnen Stellen zu explodieren scheint (Somethings’s Gonna Happen kündigt zum Beispiel eine Apokalypse an, die am Ende aber nicht eintritt) und dennoch bricht die Spannung nicht ab oder löst sich endlich in Harmonie auf.
Non-Stop auf Tour
Immer wieder verknüpfen SPRINTS ihre Dystopie mit konkreten Situationen und Beschreibungen ihres Alltags: Der Song To The Bone beschreibt eine einsame Nacht und malt damit nicht nur ein postapokalyptisches Szenario, sondern bezieht sich bei diesem Titel auch auf die Gefühle auf der Tour. Denn obwohl SPRINTS gerade ihren Traum leben, ist das ständige Unterwegssein immer wieder von Isolation und Desillusionierung geprägt. Zuletzt waren SPRINTS mit Fontaines D.C. auf Tour, spielen nun begleitend zum Albumrelease einige kleine Inhouse-Shows, bevor es dann im Winter wieder auf Tournee geht.
Schon kurz nach dem Release des Debüts hat sich Gitarrist Colm O’Reilly aus der Band herausgezogen. Im Statement wurde explizit auf die Herausforderungen des Tourlebens verwiesen. Heute versuchen SPRINTS im Touralltag auf sich zu achten, erzählen sie mir, während Nachfolgegitarrist Zac Stephenson die Stoffforelle besonders eng umschlossen hält. „Das Tourleben ist verrückt, und man muss sich an all die anderen Dinge erinnern, die man im Leben genießt, und versuchen, einige davon so gut wie möglich in den Touralltag zu integrieren. Ich habe zum Beispiel eine Zeit lang nicht viel gelesen, und sobald ich wieder damit angefangen habe, fühlte ich mich viel glücklicher. So einfach kann es sein“, erklärt Drummer Jack Callan.
Ich schreibe, also bin ich
Auf All That Is Over stecken zahlreiche literarische Referenzen, denn das Lesen ist nicht nur etwas, das den einzelnen Mitgliedern hilft, den Touralltag zu bewältigen und sich ein bisschen aus dem sozialen Tohuwabohu herauszuziehen, sondern es ist eine Leidenschaft, die SPRINTS miteinander teilen und verbinden. Am Offensichtlichsten ist die Andeutung in der Single Descartes. Sie beruht auf der Annahme des Philosophen, dass Schreiben ein Ausdruck der menschlichen Erfahrung ist. Gleichzeitig beginnt der Titel mit der Zeile „Vanity is the curse of culture / A cyanide for the soul“, die Chubb aus dem Buch Outline von Rachel Cusk übernommen hat.
Doch nicht nur Literatur war ein großer Einfluss auf dieses Album, wie Callan beteuert: „Ich, Carla, Sam und Zac mögen alle Videospiele und Filme, natürlich auch Musik, und das verbindet uns sehr und es ist auch eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Denn hin und wieder schaut man sich um und merkt: Nichts davon ergibt Sinn. Vor allem große Medienunternehmen und deren Berichterstattung entsprechen oft nicht unseren Erfahrungen und dem, was wir sehen. Deshalb habe ich das Gefühl, in einer Simulation zu leben. Und dann kommt es auf Kunst und Kultur an, um eine Verbindung zu finden.“
Gerade diese Schere zwischen Wahrnehmung und Repräsentation ist ein Leitthema auf All That Is Over. Besonders deutlich wird dies im Song Beg. Dort geht es um ein System, das sich vermeintlich auf (christliche) Moral beruft, diese aber selbst verrät, Gräueltaten begeht und dann mit dem Finger auf marginalisierte Gruppen zeigt, die ohnehin schon ausgegrenzt werden. Und obwohl das dystopische Thema konzeptuell über allem steht, kommt man nicht umhin, direkte Parallelen zu ziehen und konkrete Bilder im Kopf zu haben, wenn man Songs wie Beg hört. Denn natürlich sind diese Vergleiche zu aktuellen Kriegen oder zur westlichen Außenpolitik und zu den geführten Diskursen in Irland, Großbritannien, aber auch in Deutschland kein Zufall. SPRINTS legen es darauf an, dass die Linien verschwimmen und es ist erschreckend, wie einfach ihre zerrütteten Sprachbilder aktuelle Beispiele finden. „Ich glaube, viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt in absolutem Chaos versinkt und niemand weiß, wie man das aufhalten kann. Es schien mir wirklich notwendig, dieses Gefühl zu verarbeiten und zu versuchen, die Außenwelt zu verstehen“, erklärt Karla.
Gibt es noch Hoffnung?
Im gleichen Atemzug erzählt sie mir aber, dass sie, also die Band, gerade erleben, wie all ihre Träume in Erfüllung gehen, wie sie zu einer Familie zusammenwachsen und sich aufeinander verlassen können. Im Pressetext wird beschrieben, dass SPRINTS ihre Musikblase als eine „schöne kleine, dysfunktionale, verrückte Familie“ begreifen. Eine liebevolle Beschreibung, die man in den letzten Jahren nur selten hört. Viel öfter hört man vom immensen Druck der Musikindustrie, der besonders auf jungen Bands lastet. Jack führt aus: „Ja, es steht im Gegensatz zur Musikindustrie im Allgemeinen, die ein Spiegelbild der sehr kapitalistischen Gesellschaft ist. Die meisten Menschen, also Künstler:innen, Crew und alle, die in der Branche arbeiten, verdienen sehr wenig Geld, während sich der Reichtum an der Spitze konzentriert. Das ist eine so große existenzielle Sache, die uns näher zusammenbringt, sodass wir uns zumindest gegenseitig den Rücken stärken können.“
Diese Dualität – also Gemeinschaft in einem System, das eigentlich gegen kollektiven Zusammenhalt arbeitet, oder das Wahrwerden von Träumen zu einer Zeit, in der die Welt besonders ungerecht erscheint – die durchzieht All That Is Over. „Ein gute, dystopische Geschichte sollte eines schaffen: eine Warnung zu sein“, sagt Jack. Obwohl viele der Songs Missstände anklagen und einen erschaudern lassen, zeigt ihre bloße Existenz einen Schimmer von Hoffnung. Denn indem man für etwas einsteht und seine Werte durch Kunst und Kultur erfahr- und teilbar macht, offenbart sich Zusammenhalt. SPRINTS zeigen: Es lohnt sich laut zu sein, gemeinsam, Seite an Seite.