2020 hat die Welt nichts zu lachen. Unbeschwerter Hedonismus wie der Brat Summer scheint Lichtjahre entfernt. Im Mai feuert Charli xcx, noch vor ihrem globalen Durchbruch, mit How I’m Feeling Now dennoch eine experimentelle Notrakete aus Hyperpop und Elektro in den Lockdown-Himmel.
Hört euch hier forever von How I'm Feeling Now an:
Als die Welt im Frühjahr 2020 in den ersten Lockdown abtaucht, herrscht überall Schockstarre. Was passiert hier? Werden wir jemals wieder ein Konzert besuchen oder tanzen gehen? Plötzlich waren wir alle gleich, weil wir alle dieselben Ängste und Fragen hatten. Antworten gab es damals noch nicht, als ging jeder auf seine Weise damit um. Charli xcx zum Beispiel schrieb einfach binnen sechs Wochen ein ganzes Album. Allein in Quarantäne in ihrem Haus in Los Angeles. Fünf Jahre später ist es ein Zeitzeugnis des Covid-Pop. Und ein erstaunliches künstlerisches Statement.
Chronik des ersten Lockdowns
Erst im September 2019 veröffentlicht die Engländerin ihr drittes Album Charli, ein weiteres geglücktes Beispiel ihrer irrwitzigen Forschung zwischen Hyperpop und Avant-Pop. Wenige Monate später steht die Welt auf dem Kopf. Und Charli xcx stürzt sich wie besessen in die Arbeit. Sie vertont das Leben, das wir alle in dieser Zeit leben. Träume von durchwachten Nächten auf der Tanzfläche, Visionen von wildem Sex und endlosem Rausch, von Sonnenaufgängen Seite an Seite. Aber auch die Bestandsaufnahme eines plötzlich sehr engen Lebens. „I’m so bored/Wake up late, eat some cereal/Try my best to be physical/Lose myself in a TV show/Staring out to oblivion/All my friend are invisible“ singt sie in Anthems. Und liefert eine Chronik des ersten Covid-Lockdowns.
Von Utopie zu Dystopie
Der widerspricht eh so ziemlich allem, wofür Charli in ihrer damals schon zehnjährigen Karriere steht: Sie schreibt Songs, die zum Teilen gedacht sind, Songs fürs Vorglühen, zum gemeinsamen Schwitzen. Bis jetzt war ihre Welt eine grenzenlose Pop-Utopie. Und 2020 leben wir auf einmal alle in einer kolossalen Dystopie.
Dennoch, und das ist die größte Stärke dieses experimentellen Albums: Es lässt die Mundwinkel nicht hängen. Sie holt sich Freund:innen und Produzent:innen für Online-Sessions ins Wohnzimmer und schreibt ihre „bislang optimistischsten“ Texte, wie sie selbst sagt. Sie teilt Schnipsel und Videos, bittet Fans um Mithilfe, lädt Dutzende Menschen in Zoom-Sessions. „Ich weiß gar nicht, warum ich noch nie ein Album wie dieses gemacht habe“, sagt sie der BBC 2020. Natürlich in einem Zoom-Call. „Ich genieße es, nicht zu reisen, still zu sein und mich auf meine Musik zu konzentrieren“, fährt sie fort. „Das habe ich noch nie zuvor gemacht. Es war immer alles gleichzeitig los, und ich habe mir hier und da einen Tag Zeit zum Aufnehmen genommen. Ich denke, das wird sich ändern, weil ich es liebe, so aufzunehmen.“
Make Eurotrance great again
Musikalisch ist das Album locker, weniger stringent als Charli, aber immer noch ein beeindruckend wilder Ritt durch die verschiedenen neonfarbenen Spielarten der modernen Clubmusik. Und eine nostalgische Verneigung vor der Eurotrance-Szene der Neunziger. Damals eben, als das Leben endlich mal wirklich unbeschwert war.
Charli xcx macht ihrer Frustration Luft, feiert gleichzeitig aber die Liebe. Liegt vielleicht auch daran, dass sie mit ihrem Boyfriend in Quarantäne ist, mit dem sie zuvor eine anstrengende Fernbeziehung führt. How I’m Feeling Now beweist daher eindrucksvoll, dass sie es auch ohne den Glanz und Glamour ihrer A-List-Gäste auf dem Vorgänger kann. Vielschichtige synthetische Arrangements schlängeln sich um Charlis Gesang, der selbst nach wiederholten Tonhöhenverschiebungen und Filtern unverkennbar xcx bleibt. Talk about Markenzeichen, Baby.
Das hier ist noch nicht die Charli xcx, die 2024 den Brat Summer einläuten und binnen weniger Wochen zum einflussreichsten Popstar der Saison werden wird. Mit diesem künstlerischen Statement stellt sie aber die Weichen dafür.