Einen Synthesizer, ein paar Streichinstrumente und ihre einzigartige Stimme: Mehr braucht Enya nicht für einen Welt-Hit wie Only Time. Ursprünglich als Reflexion ihres Beziehungslebens gedacht, entwickelte sich das Stück nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zum Symbol kollektiver Trauer und Hoffnung.
Schaut euch hier das Video zu Only Time an:
Sie ist das vielleicht größte Kuriosum der Musikindustrie. Mehr als 80 Millionen Platten hat Enya verkauft, ohne auch nur eine einzige Tournee. Nein, die irische Sängerin bleibt lieber in ihrem Schloss an der Küste Dublins, tüftelt im Studio an Sounds herum und lässt in völliger Ruhe neue Musik entstehen. Das hört man ihren Songs an. Mystisch, getragen, detailversessen: Ihre größten Hits wie Orinoco Flow und Caribbean Blue sowie den Herr der Ringe-Song May It Be hätte niemand außer Enya umsetzen können. Als sie 1998 mit der Arbeit an ihrem fünften Album A Day Without Rain beginnt, fragt sie sich, ob sie in ihrem bisherigen Leben die richtigen Entscheidungen getroffen hat – und beantwortet sie sich in ihren Songs selbst.
Only Time: Enyas Welt-Hit mit zwei Bedeutungen
Ganze zwei Jahre dauert die Produktion von A Day Without Rain. Zeit, die man sich nur nehmen kann, wenn man eine Platte im eigenen Studio aufnimmt – genauer gesagt im Aigle Studio in Killiney, das Enya und ihrem Produzenten Nicky Ryan und dessen Frau Roma gehörte, bis Nicky Ryan am 10. September 2025 verstarb. Der Ablauf ihrer gemeinsamen Produktionen bis dahin: Enya schreibt Musik, spielt sie den Ryans vor, Roma schreibt Texte und anschließend arrangieren Enya und Nicky die fertigen Songs. So läuft es auch von 1998 bis 2000, wobei unter anderem der wohl größte Enya-Hit Only Time entsteht. Darin geht es um das Finden der perfekten Liebe, was als abgeschieden lebende Musikerin nicht immer einfach ist.
Eine völlig neue Bedeutung bekommt der Song nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. US-amerikanische Fernseh- und Radiostationen wie CNN und ABC spielen das Stück im Zuge ihrer Berichterstattung und verhelfen Only Time zu trauriger, aber gewaltiger Berühmtheit. Deutet man die Botschaft des Songs ein wenig um, ergibt das Sinn. Denn tatsächlich glauben nach den Anschlägen viele, dass nur die Zeit die Wunden nach der Katastrophe heilen kann – wenn überhaupt. Doch der Song funktioniert auch aus einem anderen Grund: Obwohl Only Time weitestgehend melancholisch klingt, wie viele Songs von Enya, strahlt ihre Interpretation auch etwas Hoffnungsvolles aus, eher nach dem Motto: Die Zeit wird es schon richten.
Enya übernimmt Verantwortung
Enya hätte sich über die Umdeutung ihres Songs freuen und sich zurücklehnen und ihre Tantiemen zählen können. Stattdessen tut sie das Gegenteil: Sie veröffentlicht Only Time noch einmal und spendet die Einnahmen an den „Widows’ And Children’s Fund“ der Feuerwehr. „Ich glaube, fast jeder wollte damals den Menschen in New York irgendwie helfen“, erklärt Enya 2005 in der Late, Late Show. „Sie waren so traumatisiert.“ Es sei bewegend gewesen, den Song für die New Yorker:innen zu singen, denn es habe ihr das Gefühl gegeben, ihnen in ihrer Verzweiflung ein Stück Trost schenken zu können. Die Menschen danken es Enya und befördern ihr fünftes Album A Day Without Rain sowie die Single Only Time auf Platz 2 beziehungsweise 10 der Charts.
Bis heute steht Only Time symbolisch dafür, dass alles zwei Seiten hat. Wo Verzweiflung herrscht, braucht es Hoffnung – und auf Trauer folgt Heilung. „Ich habe mir gewünscht, dass wir den Menschen diese Botschaft vermitteln können“, erzählt Enya 2005. In einem anderen Interview verrät sie: „Zeit kann Wunden nicht beseitigen, aber irgendwann kehrt wieder ein wenig Normalität ein, die für das Leben wichtig ist.“ Das sei wohl auch der Grund dafür, dass viele nach den Anschlägen bestimmte Songs gehört hätten. „Sie haben versucht, an den Punkt zurückzukehren, an dem sie so vorher waren, um etwas zu fühlen“, denkt die Sängerin. „Aber das Leid dauerte noch an.“ Immerhin: Enya konnte es ein wenig lindern – und das werden ihr die New Yorker:innen nicht vergessen.