
20 Jahre „Illinois“: Sufjan Stevens‘ persönliche und historische Ode an einen Bundesstaat
popkultur05.07.25
Anfang der 2000er kam ein junger Singer-Songwriter namens Sufjan Stevens mit einer wahnwitzigen Idee um die Ecke: jedem Bundesstaat der Vereinigten Staaten ein eigenes Album widmen. Das bekannteste Werk daraus wird heute 20 Jahre alt: Illinois.
Das sogenannte 50 States Project begann mit Sufjan Stevens drittem Album Michigan (2003), welches seinem Heimatstaat Tribut zollte. Für den nächsten – und Spoiler: auch schon wieder letzten – Streich in dieser Serie wählte Sufjan Stevens den Bundesstaat Illinois. Warum ausgerechnet diesen? Er sah es als eine Art Schwester-Staat zu Michigan und diese beiden gemeinsam als ein Herzstück des Mittleren Westens der USA.
Information und Emotion
Illinois hat eine reichhaltige Geschichte – aber natürlich sollte es nicht nur eine Geschichtsstunde sein. Dem Dusted Magazine erzählte Sufjan Stevens damals: „Ich wollte, dass es eine Studie ist, eine Art historische Untersuchung, aber ich wollte nicht, dass sie zu voll mit Informationen ist. Ich wollte nicht, dass es zu politisch oder didaktisch ist. Also musste ich alles irgendwie mit einem Gefühl der Selbstfindung und Überzeugung und einer emotionalen Landschaft in mir persönlich nachverfolgen.“
Stevens selbst stammt ja nicht aus Illinois, also sammelte er Geschichten anderer Personen, studierte die Historie des Staats, las Werke von Schriftsteller:innen aus Illinois und kramte aber auch eigene Anekdoten aus, die er mit den Orten verband. So lernt man mit dem Album etwas über Illinois und bekommt gleichzeitig persönliche Blickwinkel auf diese Themen.
Geschichten aus Illinois
Der Quasi-Titeltrack Come On! Feel The Illinoise! behandelt in seinen zwei Teilen einen Konflikt zwischen der Geschichte des Staats und Stevens als Person: In der ersten Hälfte des Songs geht es um die World’s Columbian Exposition, die 1893 in Chicago veranstaltet wurde. 400 Jahre nach Columbus‘ Entdeckung Amerikas sollte diese Weltausstellung zeigen, wie weit die Vereinigten Staaten seitdem gekommen waren. Technische Fortschritte wurden präsentiert, aber auch viele neue Produkte und Marken. Viele sehen sie als Beginn der US-amerikanischen Konsumkultur. Im Kontrast dazu wird im zweiten Teil des Songs Sufjan Stevens in seiner Rolle als Künstler beleuchtet, der in dieser kommerzialisierten Welt leben muss. Er wird vom Illinoiser Schriftsteller Carl Sandburg besucht, der Stevens dazu ermutigt, für die pure Kunst zu leben und sich nicht vom modernen Konsumwahn zerstören zu lassen.
Im Song John Wayne Gacy, Jr. schafft Stevens es sogar, aus der Geschichte eines berüchtigten Kindermörders und Vergewaltigers aus Illinois eine persönliche, größere Frage aufzuwerfen. Wenn wir über solche schrecklichen Menschen reden, sind wir selbst frei von Sünde und hätten wir durch die falschen Umstände sogar selbst so werden können? In den letzten Zeilen erklärt Stevens: „And in my best behavior, I am really just like him / Look beneath the floorboards for the secrets I have hid“. Auch durch die reduzierte Instrumentierung ist das einer der berührendsten Songs des Albums.
Dabei steuert Stevens auch einige eigene Geschichten bei: In Casimir Pulaski Day erzählt er von einer Freundin, die am Illinoiser Feiertag an Krebs starb. In Chicago erinnert er sich an Roadtrips in diese Stadt, wodurch er seine Jugend reflektiert und wie man sich als Mensch weiterentwickelt. The Predatory Wasp… ist schließlich ein Rückblick auf seine Zeit als Teen in einem Feriencamp, als er mit einem Freund für mehrere Tage verloren ging, einer riesigen Wespe begegnete und währenddessen realisierte, dass er homosexuell war. Eine Gay-Awakening-Hymne, noch viele Jahre vor Stevens‘ Soundtrack zu Call Me By Your Name.
Riesiger Sound und intime Anekdoten
Die Musik unterstützt dabei alle Geschichten auf Illinois genau richtig. In den verletzlichsten Momenten sind es mal nur eine Akustikgitarre oder ein Klavier, in den größten Momenten sind es riesige, feierliche Orchester-Arrangements – so ausufernd wie einige der Songtitel. Stevens zeigt Einflüsse aus Klassik, genauso wie Folk, Rock und Country, und beweist, dass ihm in puncto musikalischer Vision wenige Singer-Songwriter:innen das Wasser reichen können.
Die prunkvoll klingendsten Songs handeln mal von der glorreichen (und weniger glorreichen) Geschichte des Bundesstaates, etwa Come On! Feel The Illinoise! oder The Tallest Man, the Broadest Shoulders. Aber auch intime Anekdoten wie in The Predatory Wasp… oder Chicago gehören zu den lautesten Momenten des Albums, weil es für Stevens solch riesige Erkenntnisse in seinem Leben waren. Persönliche Geschichte und weltpolitische Geschichte sind auf Illinois gleichermaßen relevant. Orte und Erinnerungen sind klar miteinander verknüpft.
Ist das Patriotismus?
Aber warum braucht es überhaupt so ein patriotisches Werk? „Wir sind ein Einwanderungsland, ein Land, das unter einer Identitätskrise leidet“, erklärte Stevens gegenüber The Guardian. „Und unsere Art, damit umzugehen, besteht darin, die Bruchstücke von allem zu einem Flickenteppich zu formen, einer Ansammlung von etwas, das eine Bedeutung hat. Wir haben nicht wirklich die tiefe Geschichte, Tradition oder Mythologie wie Europa oder Asien. Ich denke, wir sind irgendwie verzweifelt auf der Suche nach einem Sinn und sind unglaublich patriotisch.“
Nach Illinois und dem Vorgänger Michigan verfasste Sufjan Stevens noch ein paar Songs über Oregon, verwarf die Idee aber schließlich. Später erklärte er, das 50 States Project sei eher ein Promo-Gimmick gewesen, das er nicht fortführen wolle. Aber ein so rundes und beeindruckendes Werk wie Illinois ein zweites Mal hinzubekommen, wäre wahrscheinlich auch unmöglich gewesen.