Neuer Goldstandard des knallharten Westcoast-Rap: Kendrick Lamar disst auf seinem furiosen Überraschungsalbum GNX nicht mehr nur Drake, sondern gleich die gesamte Musikindustrie.
Er kommt nicht in Frieden: Kendrick Lamar schlägt den Olivenzweig zur Seite, ignoriert die weiße Fahne und begibt sich hinter feindlichen Linien in Stellung: GNX ist mehr Schlachtruf als Album, ein definitives Statement seiner kolossalen Größe. Die gesamte Westcoast hat er hinter sich geschart, ist nach seinem siegreichen Diss-Battle gegen Drake als neuer Führer, als König von Compton hervorgegangen.
Was kommt nach dem Pulitzerpreis?
Den launigen, schwindelerregend kreativen Diss-Tracks gegen seinen einstigen Homie Drake ist es überhaupt erst zu verdanken, dass Lamar den Rap noch nicht an den Nagel gehängt hat. Nach Mr. Morale & The Big Steppers von 2022, nach dieser einfühlsamen Chronik persönlichen Wachstums und nach einem Pulitzerpreis kann eben nicht mehr viel kommen.
Eigentlich.
Jetzt ist da aber eben GNX. Völlig überraschend erschienen, schon jetzt ein Referenzwerk, ein definitives Statement des Westcoast-Rap. Nach Drake, so die leicht megalomanische These, kann sich Kendrick Lamar jetzt doch gleich mit der ganzen Welt anlegen. Rap lebt von dieser großen Geste, von dieser scheinbaren Überheblichkeit, die aus der Nähe betrachtet aber doch nur messerscharfer Realismus ist.
Kampfbereites Album
GNX also. Ein Album, benannt nach dem Buick-Modell, das auch auf dem Cover zu sehen ist. GNX steht für Grand National Experimental und ist dasselbe Modell, in dem der neugeborene Kendrick von seinem Vater, einem Gang-Mitglied, nach der Geburt nach Hause gefahren wurde. Dann ist aber auch schon Schluss mit nostalgischen Referenzen an Lamars alles andere als einfache Kindheit auf den Straßen Comptons.
Obwohl Songs wie luther (ein Duett mit SZA) die verspielten, sanften Kalifornien-Roots mit Streichern und unschuldigen Melodien würdigen, dominiert ein reflektierter, aber dezidiert dunkler, kampfbereiter Ton. Der heftige Opener wacced out murals demonstriert diese Stärke gut: Erst gibt es überraschende Vocals der Mariachi-Sängerin Deyra Barrera, dann flirren finstere Synthesizer und harte Beats, zu denen Lamar seine kaum zu zügelnde Wut über die Zerstörung eines ihm gewidmeten Wandgemäldes in Compton rauslässt. „Kill ’em all before I let ’em kill my joy“, rappt er. Und meint das auch so.
Lamar stellt den Hip-Hop an die Wand
Wie immer gilt bei ihm jede Zeile, jedes Wort. Er disst alle und jeden, zieht Bilanz und rechnet ab. Snopp Dogg bekommt sein Fett weg, weil er Drakes KI-Diss-Track gepostet hat, Lil Wayne wird als kleinlich beschimpft und der Hip-Hop generell an die Wand gestellt, weil ihm zu wenige zu seiner Halbzeitshow beim Super Bowl 2025 gratuliert haben. Das wird eh sein Jahr, der definitive Anbeginn der Ära Lamar. Es könnte ihm egal sein, er könnte drüberstehen – aber er entscheidet sich auf GNX regelrecht lustvoll dazu, es nicht zu tun.
GNX im Circle Store:
Kendrick Lamar geht in die Offensive, ehe es die anderen tun können. Er bringt sich, seine Philosophie und seine Marke auf einem der besten Rap-Alben des Jahres in Position, brilliert auf hey now sowohl als Rapper als auch als Sänger und Texter. Noch besser ist tv off, weil es die Scharfkantigkeit echten Revenge-Raps mit Groove und Flair der Westcoast vereint.
Der Rap von morgen
Zwölf Songs sind es insgesamt, mit 44 Minuten und 20 Sekunden ist es die bisher kürzeste Lamar-Platte. Dafür reiht sich Banger an Banger. dodger blue bleibt als einziger Song merklich hinter dem turmhohen Niveau des restlichen Albums zurück. Egal, kann man mal kurz verschnaufen und verarbeiten, was schon alles passiert ist. Wenn Lamar nicht austeilt, erweist er sich nämlich als introspektiver Poet, der Ideen für den Rap von morgen hat, der bei allen Schwierigkeiten, die er mit dem Genre, den Menschen darin und dem Business hat, diese Musik lebt, liebt und braucht.
Deswegen gibt er Youngsters wie Dody6, AzChike, Peysoh, Hitta J3 oder Young Threat die Bühne, die sie seiner Meinung nach verdienen: Ikonen von morgen, Helden in der Mache, gesegnet und legitimiert von Lamar selbst, diesem 37-jährigen spirituellen Anführer des Hip-Hop.