Die Chromakopia-Tour ist noch gar nicht vorbei, da haut Tyler, The Creator schon spontan Album Nummer neun raus. Don’t Tap The Glass soll vor allem zum Tanzen animieren und unpersönlicher sein – aber steckt mehr dahinter?
Drei Tage hatte die Welt Zeit, sich vorzubereiten. Am Freitag wurde das Datum „21. Juli“ gepostet, ohne Erwähnung davon, was da überhaupt angeteast wird. Spekulationen gab es natürlich, aber schon am nächsten Tag wurde klar: ein lang erwartetes Musikvideo für seinen Song Sticky ist es nicht – sondern ein Album. Der Titel Don’t Tap The Glass bekam eine eigene Website und wurde von Tyler, The Creator auf einem Konzert bereits herausposaunt. Schließlich sorgte dann noch eine Glasvitrine mit einer Tyler-Figur im World Trade Center für Aufmerksamkeit. Und heute ist es soweit: Don’t Tap The Glass ist draußen. Anbei liefert Tyler, The Creator drei Regeln, die man als Grundsätze für das Album verstehen kann. Und diese helfen uns auch, das Gesamtwerk zu verstehen.
Regel 1: „Körperbewegung. Nicht still herumsitzen.“
Tyler, the Creator kann beides gut: Banger und ruhige, nachdenkliche Momente. Don’t Tap The Glass soll aber vor allem zum Tanzen anregen. Ruhige Songs gibt es hier wirklich kaum, die 28 Minuten Spielzeit stecken voller Energie.
Auf der einen Seite gibt es aggressive Rap-Tracks, die live definitiv für Moshpits sorgen werden. Big Poe beginnt das Album direkt mit so einem Brett – samt Rap-Feature von Pharrell Williams und einem Sample von Busta Rhymes. Ein großes Highlight, Don’t Tap That Glass / Tweakin‘, führt nicht nur Tylers Tradition von zweigeteilten Songs wieder ein, beide Hälften des Tracks halten auch eine ähnliche intensive Energie bei.
Auf der anderen Seite merkt man Tyler wieder seine Liebe für R&B und Pop an – jedoch keine seichten Balladen, sondern tanzbare, groovy Songs. Sugar On My Tongue ist ein waschechter 80er-Synth-Pop-Ohrwurm. Für Don’t You Worry Baby lässt Tyler fast den ganzen Song von der R&B-Sängerin Daisy World singen – ein träumerischer Moment, der von knallenden Drums unterfüttert wird. Auf dem ganzen Album dominieren Synthesizer das Soundbild und sorgen dennoch für eine abwechslungsreiche Produktion.
Regel 2: „Sprich nur mit Ehre. Lass dein Gepäck zuhause“
Mit dem „Gepäck“ meint Tyler, The Creator wahrscheinlich die emotionale Last, die man mit sich herumträgt. Statt sich damit zu befassen, heißt es also: Auch mal darauf gucken, was im Leben gut läuft und worauf man stolz ist. „None of that deep shit“, ruft er zu Beginn. Im Vergleich zum sehr persönlichen Chromakopia ist Tylers neue Persönlichkeit auf Don’t Tap The Glass also vor allem angeberisch und laut. Er disst alle, die ihm im Weg stehen; er rappt über Geld und seinen Status. Liebe ist in Sugar On My Tongue keine wirkliche Liebe, eher Anziehung und Lust.
Selbst die Figur, die das Cover ziert und in der Glasvitrine im World Trade Center steht, zeigt in Anlehnung an LL Cool Js frühe, genreprägende Looks eine verzerrte Version von Tyler: riesige Hände, die Macht implizieren; eine übertriebene Goldkette für den Reichtum. Warum ist Tyler, The Creator also auf einmal so oberflächlich? Aber so simpel ist das Album nicht gestrickt…
Regel 3: „Klopf nicht an die Scheibe.“
Denn der Titel zeigt: Tyler will nicht erreicht werden. Er beschreibt sich selbst in einem Song als Monster, das wie im Zoo hinter einer Scheibe gefangen ist und nur angeglotzt wird. Darum will er niemanden an sein Fenster heranlassen. Auf vielen Tracks gibt er an und stellt sich über seine Feinde, aber Liebe ist genauso Thema auf dem Album. Insbesondere im letzten Track Tell Me What It is offenbart er, dass er verzweifelt auf der Suche nach der Liebe ist, diese aber nicht empfinden kann.
Don’t Tap The Glass verbindet also die beiden Seiten des Albums – die selbstbewusste und die, die sich nach Verbindung sehnt – in einem Problem: Tyler ist emotional unerreichbar. Er zieht sich zurück. In Don’t You Worry Baby und I’ll Take Care of You ist er selbst mit seinem Rap und Gesang kaum präsent; er lässt hier eher anderen Musiker:innen das Spotlight und baut Soundcollagen aus Samples und smoothen Instrumentals.
So unpersönlich, wie der Titel und das Marketing des Albums es versprechen, ist Don’t Tap The Glass also überhaupt nicht – was natürlich eine bewusste Entscheidung ist. Tyler, The Creator hat ein Album angekündigt, das einfach nur fürs Tanzen und ohne die großen Emotionen gedacht ist, hat dabei aber ein ziemlich treffendes Selbstportrait geschaffen. Ein Album, das die Distanzierung zwischen einem Künstler und seinem Publikum behandelt – und dabei trotzdem tatsächlich viele Ohrwürmer und Banger bereithält.