Der ganz große Durchbruch ist es noch nicht, dennoch stellen Depeche Mode 1984 mit Some Great Reward die Weichen in Richtung Stadionband. Musikalisch dominiert unterkühlte Industrial-Schroffheit, textlich geht es explizit zur Sache – und Martin Gore hüllt die Band bis auf Weiteres in düstere Klangschatten.
Nobodys sind Depeche Mode nun wirklich nicht mehr, als sie 1984 nach West-Berlin zurückkehren. Schon das letzte Album Construction Time Again entsteht in den Hansa Studios im langen Schatten der Mauer, wegweisend inspiriert wurde es damals von den Einstürzenden Neubauten. Mit Everything Counts hat man einen ersten richtigen Hit auf einem Album, das noch ein wenig zögerlich zwischen dem schillernden Synth-Pop der ersten beiden Alben und dem dräuenden Industrial-Tremor schwankt, für den die Band in der zweiten Hälfte der Achtziger bekannt werden wird.
Geboren in West-Berlin
Die Band sitzt derzeit also zwischen den Stühlen. Und profitiert in West-Berlin ein weiteres Mal von den Einstürzenden Neubauten. Wenn auch diesmal indirekt: Produzent Gareth Jones hatte in den Wochen vor der Ankunft von Depeche Mode ordentlich Samples produziert, Sounds aufgenommen, Krach gemacht und klangliche Räume geschaffen. Eigentlich für die Neubauten, wie es heißt, aber die wollten diese Klangcollagen dann doch nicht. Depeche Mode hingegen schon. Die haben mittlerweile auch die Vorzüge von Samplern und den wunderbaren Möglichkeiten verschiedenster Geräusche für sich entdeckt – und beschließen, diesmal aufs Ganze zu gehen. Neben den voraufgenommenen Klängen wird die Band dafür auch selbst aktiv: „Wir gingen in Studios und fragten als Erstes, wo die Küche ist – buchstäblich nach Töpfen und Pfannen und Dingen, die wir die Treppe hinunterwerfen konnten, und nahmen die Rhythmen auf, die sie verursachten, und machten dann Loops daraus“, so erinnert sich Dave Gahan mal.
Some Great Reward – Ein Klang wie in einem Stahlofen
Es hämmert und schabt, es schnäuzt und bollert, es rumort und ächzt in den unterkühlten Stücken von Some Great Reward – eine adäquate Entsprechung des Coverartworks, aufgenommen in den Round Oak Steelworks, einem gewaltigen englischen Stahlofen, der 1984 nur wenige Monate nach Entstehen des Fotos abgerissen wurde. Nach ihrer Zeit in West-Berlin (die Aufnahmen dauern gerade mal eine Woche) geht es zurück nach London, wo das Album vollendet wird. „Wir wären auch viel früher fertig geworden, wenn nicht ein Teil der Arbeit noch mal gemacht werden musste, als ein bestimmtes Bandmitglied auftauchte, in diesem berüchtigten Vorfall über das Hauptstromkabel stolperte und den Stecker zog.“ Von wem er wohl spricht?
Die Neubauten im Geiste
Das Album klingt wie eine Schicht in der Stahlhölle Englands, durchleuchtet von BSDM-Fantasien (Master And Servant) und gotteslästerlichen Abgesängen (Blasphemous Rumours). Ein Albtraum eigentlich, eine Studie in Maschinenlärm und obsessiver Sexualität – und nicht mehr mit den Depeche Mode zu Speak-&-Spell-Zeiten zu vergleichen. Ja, es ist als hätte man einfach die Farbe aus der Musik gezogen. Und nur monochrome, bleierne, düstere Tupfer übrig gelassen.
Das geht natürlich überwiegend auf die Kappe von Martin Gore, der sich hier erstmals ungehemmt und entfesselt ausleben kann. Gemeinsam mit Daniel Miller und Gareth Jones erschafft er ein Klangbild, das die englische Synth-Pop-Schule mit den Krachfantasien der Neubauten und einem straight-sinnlichen EBM-Stil Marke DAF verbindet. Klingt erst mal nicht sonderlich verheißungsvoll aus kommerzieller Sicht. Doch Depeche Mode haben eben damals schon einen Sinn für Arrangements, für Hits und für Zeitgeist.
Der erste große Hit wird wenig geliebt
All das kommt bei People Are People zusammen, bis heute einer ihrer größten Hits. Und das eigentlich wider Willen: Der Song gibt sich zumindest alle Mühe, unkommerziell zu bleiben, schroff, scharfkantig und oftmals einfach zu dissonant für empfindliche Radioohren. Im Grunde ist der Song Musique concrète, ist Industrial-Avantgarde, in der Metall auf Metall trifft, in der es pocht und schlägt und tockert und schnauft. Er ist aber eben auch ein Hit: In Deutschland ist People Are People die erste Nummer eins der Band, gehört laut Rolling Stone zu den „500 Songs, die den Rock And Roll prägten“.
Die Band hält indes nicht allzu viel zu dem Song: 1990 bedauert Frontmann Dave Gahan im NME, dass der Song „zu nett, zu kommerziell“ klingen würde – und außerdem nur in Dur sei. Da spielen sie ihn schon zwei Jahre nicht mehr live: Seit dem 18. Juni 1988 haben sie das Stück nicht im Programm gehabt. Martin Gore sieht das ein wenig reflektierter: „Ohne ihn würden wir vielleicht nicht mehr als Band existieren.“ Und er hat wahrscheinlich recht: Während die Konzerte der Band damals schon sehr gut laufen und immer besser besucht werden, lassen die Verkaufszahlen noch zu wünschen übrig. „Aber der Song hat uns damals wirklich in einen neuen Kosmos katapultiert“, so dann auch Gahan. „Er erlaubte uns, die Musik zu machen, die wir machen wollten.“
Das machen sie auch. Nach Some Great Reward gehen Depeche Mode auf ihre bisher längste Tournee. Und kehren 1986 mit den bedrohlich schimmernden Unterweltshymnen von Black Celebration zurück. Spätestens da ist ein neuer schwarzer Stern geboren.