Featured Image
Foto: Stephen Jaffe/Getty Images

Tear Down This Wall: Wie Berlin die Teilung überwand und die Musikwelt prägte

Das Berlin des 21. Jahrhunderts hat nur wenig mit der Stadt zu tun, die einst von der Berliner Mauer in zwei Teile geteilt wurde. Heute ist die vereinte Hauptstadt eine dynamische, lebendige, offene und der Zukunft zugewandte Metropole. Aber fast 30 Jahre lang – nämlich vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 – war sie physisch und ideologisch geteilt. Eine reale Mauer aus Beton und Stahl trieb einen Keil zwischen das kapitalistische Westberlin und das kommunistische Ostberlin.

Doch entgegen aller Erwartungen entstand in der kargen Kulisse der Entbehrungen und der sozialen Teilung des Kalten Krieges eine dynamische Undergroundszene. Im Berlin der 60er und 70er Jahre trafen sich innovative und radikale Musiker:innen (und andere Kreative). Heute sind sie in ihrer Bedeutung als Wegbereiter:innen durchaus mit so einzigartigen Berliner Künstler:innen wie Marlene Dietrich, Berthold Brecht und Kurt Weill in den 20ern und 30ern zu vergleichen.

Eine lebendige Kulturszene

So wäre die elektronische Musik, wie wir sie heute kennen, ohne die bahnbrechende Westberliner Gruppe Tangerine Dream kaum vorstellbar. Gegründet 1967 von dem unerschütterlichen Edgar Froese, spielten ihre frühen Aufnahmen, wie das monumentale Album Zeit, eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Ambient-Genres und der innovativen deutschen Experimentalmusik, die unter dem Namen „Krautrock“ bekannt wurde. Auf ihren Alben Phaedra und Rubycon, die sie in den 70ern für Virgin Records aufnahmen, brachten Tangerine Dream Sequenzer zum Einsatz, lange bevor diese sich bei anderen Musiker:innen durchsetzten. Damit zementierte die Band ihren Legendenstatus.

Im Katalog von Tangerine Dream ist die Stadt Berlin sehr präsent. Das 1986 erschienene Livealbum Pergamon hält sogar den historischen Tag fest, an dem sie als erste „Rockband“ aller Zeiten in der kommunistischen DDR auftraten. Das Konzert fand am 31. Januar 1980 im Palast der Republik in Ostberlin statt. Und schon 1979 erschien ihr Meilenstein Force Majeure – Ergebnis einiger Sessions in den berühmten Hansa Tonstudios.

Hansa by the Wall

Die Anfänge dieses renommierten Studiokomplexes lassen sich bis ins Jahr 1962 zurückverfolgen. Damals haben die Brüder Peter und Thomas Meisel im Bezirk Wilmersdorf das Label Hansa Records gegründet (wo später die Europa-Releases von Boney M, Iggy Pop und vielen weiteren erschienen). Die Brüder wollten ein eigenes Studio aufbauen und mieteten dafür 1965 die ehemaligen Produktionsräume von Ariola Records in der Köthener Straße in Westberlin. 1974 war schließlich der Ausbau zum Hansa Tonstudio (auch bekannt als „Hansa by the Wall“) abgeschlossen.

Mit seiner hervorragenden Akustik etablierte sich Hansa in den 70ern als eines der führenden Studios: Damals vergruben sich David Bowie und Brian Eno in seinen Räumlichkeiten, um einen großen Teil von Bowies gefeierter Berlin-Trilogie, bestehend aus den Alben Low, Heroes und Lodger zu schreiben und einzuspielen. Berlin trug viel zu Bowies radikalem Wandel bei, als er 1976 dem Druck des Ruhms in den USA zu entfliehen versuchte und stattdessen ein einfacheres Leben im Westberliner Bezirk Schöneberg begann. Er teilte seine Wohnung in der Hauptstraße mit seinem guten Freund Iggy Pop und spielte eine wichtige Rolle als Co-Autor und Co-Produzent von dessen gefeierten Soloalben The Idiot und Lust For Life (beide 1977).

Achtung, Baby

Während ihrer Zeit in Berlin besuchten Bowie und Iggy regelmäßig das SO36 in Kreuzberg, einen der aufregendsten Nachtclubs der Stadt. Er wird oft als Deutschlands Äquivalent zum New Yorker CBGB beschrieben und öffnete seine Türen erstmals im Jahr 1978. Bis heute gastieren hier einige der bedeutendsten Punk- und Alternative-Rock-Acts der Welt. Der Club wurde schnell zu einer der beliebtesten Adressen der Kunstszene und selbst die Londoner Postpunk-Band Killing Joke widmete dem Laden einen Track auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum im Jahr 1980.

Berlin hinterließ bei Killing Joke einen tiefen Eindruck und so kehrten sie 1984 in die Hansa Studios zurück. Damals nahmen sie mit dem Rolling-Stones-Produzenten Chris Kimsey ihr Album Night Time auf, das ihnen den Durchbruch brachte. Tatsächlich war das Studio sowohl vor als auch nach dem Fall der Berliner Mauer sehr gut gebucht. Während der 80er entstanden hier musikalische Meilensteine wie David Sylvians Brilliant Trees (1984) und Tinderbox von Siouxsie & The Banshees (1986). Und seitdem bereichert das Studio ohne Unterbrechung Musikkarrieren. Auch U2s erste Session im Hansa Ton 1991 sollte ihrer kreativen Neuerfindung mit Achtung Baby auf die Sprünge helfen. Und ebenso Snow Patrols A Hundred Million Suns und R.E.M.’s Abschiedssong Collapse Into Now (2011) stehen auf der langen Liste der denkwürdigen Titel, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem Dach der Hansa Studios das Licht der Welt erblickten. 

Neue Deutsche Welle

Die Hansa Tonstudios befanden sich in verlockend kurzer Entfernung zur Berliner Mauer und brachten Platten hervor, die eine ganze Ära prägten. Auf der anderen Seite der Mauer war Populärkunst beim kommunistischen Regime verpönt und die Künstler:innen stark eingeschränkt. So mussten die Texte von staatlicher Stelle abgesegnet werden. Auch Konzerte wurden regelmäßig von der Stasi beobachtet. Trotzdem gelang es in den 70er und 80er Jahren einigen „Ostrockbands“ wie den Puhdys, Karat und City auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, ihr Publikum zu erreichen.

Ostberlin hat sogar einige internationale Stars hervorgebracht: Als ihrem Stiefvater, dem Liedermacher Wolf Biermann, 1976 seine Staatsbürgerschaft entzogen wurde, folgte ihm die aufsteigende Punksängerin Nina Hagen in die Bundesrepublik Deutschland. 1978 schafft sie es in Hamburg mit ihrem bei CBS erschienenen Debütalbum Nina Hagen Band zu kommerziellem Erfolg zu kommen und wurde auch von der Kritik dafür gefeiert. Hagen beeinflusste viele Künstler:innen der gerade im Entstehen begriffenen „Neuen Deutschen Welle“ der 80er Jahre, wie zum Beispiel DAF, Trio und Neonbabies. Aber sie war nicht die einzige Vertreterin von Ostberlins kleiner, aber sehr lebendiger Punk-Szene, die sich einer langen Musikkarriere erfreuen sollte. Auch die zukünftigen Rammstein-Mitglieder Paul Landers und Christian „Flake“ Lorenz erlernten ihr Handwerk Mitte der 80er in der „Ostpunk“-Gruppe Feeling B.

„Einer der emotionalsten Auftritte meines Lebens“

Ende der 80er Jahre trugen auch einige Musikveranstaltungen zu den radikalen Veränderungen bei, die der Stadt Berlin bevorstanden. 1987 kehrte David Bowie für ein Konzert am Berliner Reichstag zurück. Die Bühne stand so nah an der Grenze, dass sich viele Ostberliner auf der anderen Seite versammelten, um der verbotenen, westlichen Musik zu lauschen, die über die Mauer wehte. So war es möglich, dass beide Teile Berlins dieses Konzert erleben konnten – geteilt und doch beinahe vereint.

Als Bowie die Bühne betrat, sprach er auf deutsch zum Publikum: „Unsere besten Wünsche an unsere Freunde auf der anderen Seite der Mauer!“ Später sang er den Song Heroes, den er zehn Jahre zuvor in Berlin aufgenommen hatte. Damals, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, wurde die Stadt von Angst und Gewalt beherrscht.

„Das war einer der emotionalsten Auftritte meines Lebens. Ich kämpfte mit den Tränen“, erinnert sich Bowie später im Magazin Performing Songwriter. „Man hatte uns gesagt, dass einige Ostberliner eventuell etwas hören könnten, aber dann waren da Tausende an der Mauer und so war es wie ein Doppelkonzert, das nur die Mauer trennte. Wir konnten hören, wie sie auf der anderen Seite jubelten und mitsangen. Man, ich kriege immer noch einen Kloß im Hals. Es hat mir das Herz gebrochen. So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt und ich schätze, das werde ich wohl auch nie wieder.“

„Tear down this wall“

Nur eine Woche nach Bowies Auftritt kam US-Präsident Ronald Reagan nach Westberlin. Er sprach vor dem berühmten Brandenburger Tor und wandte sich an Michail Gorbatschow, den Staatspräsidenten der Sowjetunion, mit den Worten: „Tear down this wall!“ Reagans Rede und Bowies Konzert trugen dazu bei, die über mehr als eine Generation vorherrschende Stimmung rund um die Mauer zu verändern.

Im folgenden Jahr, am 19. Juli 1988, gingen Bruce Springsteen und The E Street Band noch einen Schritt weiter. Sie traten in Ostberlin bei Rocking The Wall vor 300.000 Leuten auf. Das Konzert wurde sogar im Fernsehen ausgestrahlt. Auf deutsch erklärte Springsteen den Zuschauer:innen: „Ich bin nicht für oder gegen eine Regierung. Ich bin gekommen, um Rock’n’Roll für euch zu spielen, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden.“

Anfang 1989 verkündete Erich Honecker noch, dass die Berliner Mauer auch in 50 oder 100 Jahren noch stehen würde. Doch nach dem Ende des Kommunismus in Polen und Ungarn brach die DDR innerhalb weniger Monate zusammen. Erich Honecker trat zurück und sein Machtapparat war nur noch ein Scherbenhaufen. Als am 9. November 1989 die Mauer schließlich fiel, wurde das Unvorstellbare Realität.

Die inoffizielle Hymne der Wiedervereinigung

Natürlich dokumentiert die Musik die dann folgenden Veränderungen in Berlin, die schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands im Sommer 1990 führten. Marius Müller-Westernhagens Song Freiheit war zwar schon einige Jahre alt, wurde aber zur inoffiziellen Hymne der Wiedervereinigung. Auch die Powerballade Wind Of Change von den Scorpions entstand vor dem Fall der Mauer und schaffte es dennoch im Zuge der Ereignisse in Deutschland und europaweit an die Spitze der Charts. Sogar in den USA erreichte der Song Platz 4. Am 21. Juli 1990 performte Pink-Floyd-Gründungsmitglied Roger Waters auf der Freifläche zwischen dem Potsdamer Platz und dem Brandenburger Tor, die zum Mauerstreifen gehört hatte. Dort spielte er das Album The Wall von 1979.

Wenn man allerdings einen Soundtrack zum Mauerfall zusammenstellen müsste, dann würden wohl Techno und House Music überwiegen. Die sagenumwobene Club-Szene der Stadt regte sich schon vor dem Fall der Mauer, als Dr Motte, Westbam und Kid Paul 1988 im Untergrundclub UFO an der Köpenicker Straße in Kreuzberg nächtelange Acid-House-Raves veranstalteten.

Ein neuer, kreativer Schub

Dann kam Motte die Idee, die Party sowohl mit einem Truck, lauten Beats als auch mit einer Gruppe von Raver:innen auf die Straße zu bringen. 1989 wurde die Loveparade geboren und fand bis 2003 jedes Jahr statt. Ihren Höhepunkt erreichte sie 1999 mit circa 1,5 Millionen Feiernden auf den Straßen Berlins.

Aber auch das ist nur ein Teil der Geschichte. Berlins Punk-, Indie-, und Alternative-Rock-Bands – alte genauso wie neue – haben es zu internationalem Ruhm gebracht. Die unterschiedlichsten Genres, von Downtempo bis hin zu Dancehall und Berliner Hip-Hop, haben im 21. Jahrhundert der Stadt ihren Stempel aufgedrückt.

35 Jahre nach dem Fall der berüchtigten Mauer wird Berlins Appetit auf Kreativität von einer unbändigen Lust auf Vielfalt und Abwechslung getrieben. Sie wird der Stadt auf ewig eine Sonderstellung in der (Musik-)Welt garantieren.

Mehr zum Thema im Circle Mag: