
Seit mittlerweile fünfzehn Jahren hat es sich Perfume Genius zur Aufgabe gemacht, sich für jedes Album neu zu erfinden und neuen Prämissen zu stellen. Angefangen beim lyrischen Lo-fi-/Piano-Debüt Learning, manövrierte sich Perfume Genius zu queeren Indie-Hymnen und ausufernden Art-Pop-Projekten. Schnell gelangweilt vom Rest der Welt jagte Mike Hadreas, der hinter dem Alias steckt, den Extremen nach – sowohl in der Musik als auch im Leben. Auf seinem neuen Album Glory wagt er nun etwas ganz und gar Neues: Er akzeptiert ein zurückgezogenes, behagliches Leben. Ob das seine Angststörung lindert oder anfeuert? Im Interview versuchen wir beide, mit flatternden Herzen und rasenden Gedanken zusammen auf dieses Album zu schauen, auf die Welt, in der es entstanden ist, und gleichzeitig auf die Welt, in der es jetzt veröffentlicht wird.
Schon vor zehn Jahren beschrieb Mike in einem Interview den Gedanken, der Glory durchdringt: „Eigentlich ist gerade alles gut: Ich kann meine Miete zahlen, mein Partner ist immer noch da und viele Lebensbedingungen haben sich verbessert, und trotzdem bin ich immer noch ich, genauso angsterfüllt und traurig.“ In Gesprächen zum aktuellen Alben wiederholt er mehrfach diese Sätze, teilweise sogar wortgetreu. Tatsächlich haben sich auch in den vergangenen zehn Jahren sowohl Beziehung als auch Karriere nur weiter gefestigt – und trotzdem bricht die Angst vor kleinsten Dingen nicht ab. Diese Diskrepanz zwischen Innen und Außen ist das Kernthema von Glory. Mit den Worten „What do I get out of being established? I still run and hide when a man’s at the door“ eröffnet Mike Hadreas sein Album. „Wer weiß, vielleicht wird es ja irgendwann besser und das Surren der Sorgen wird irgendwann verstummen, aber selbst wenn es nicht so ist, hoffe ich, dass ich einfach lerne damit zu existieren. Denn Angst ist, was ich fühle in der Sekunde, in der ich morgens aufstehe“, erzählt mir Hadreas, als ich ihm den gealterten Interviewausschnitt zeige.
Wieso er auch in zehn Jahren nicht wirklich viel an diesem Konflikt ändern konnte und vor allem, warum er ihn noch immer so sehr beschäftigt, dass er nun zum Hauptthema von Glory wurde, das weiß Hadreas nicht so genau. „Es ist auf jeden Fall schon besser geworden und ich bin vielleicht auch einfach ein bisschen dramatisch“, erklärt er lachend und knibbelt dabei an seinem Fingernagel, doch dann fährt er fort: „Ganz ehrlich, ich bin ein bisschen besessen davon: Was hält mich denn bitte davon ab, wirklich am Leben und an der Welt teilzunehmen, so fragil, angsteinflößend und überwältigend sie auch ist?“ Wahrscheinlich gibt Mike damit bereits eine Antwort, denn die Welt ist fragil, angsteinflößend und überwältigend – besonders für queere Menschen. So fabelhaft süß wie Glory mit seinen Harfen (Full On) und Glockenspielen (Clean Heart) auch klingt, in der Geborgenheit schwingt die Angst immer mit. „Mir geht es nicht wirklich besser, zu Hause ständig über alles nachzudenken und darauf zu warten, bis ich bereit bin rauszugehen. Aber wenn ich es erstmal schaffe, mit Menschen zu sprechen und die Welt einfach wahrzunehmen, fühle ich mich automatisch viel fähiger und die Zweifel werden leiser. Es ist trotzdem niemals mein Instinkt.“
Kontrollverlust mit Safety Net
Dass sich trotzdem etwas verändert hat, das sieht man an der Produktion dieser Veröffentlichung. Über sechs Alben wuchs Perfume Genius heraus aus dem minimalistischen Lo-Fi-Sound, erklang mal mehr, mal weniger poppig; mal mehr, mal weniger kontrovers; mal mehr, mal weniger experimentell – aber immer behielt Mike Hadreas dabei alle Fäden in der Hand. Personen wie sein Partner Alan Wyffels, Produzent Blake Mills oder Foto- und Videograf Cody Critcheloe sind bereits seit Jahren die kreativen Partner an seiner Seite. Doch erst bei diesem siebten Album hat Hadreas seine Band auch direkt im Songwriting involviert. Vor allem die Lyrics, die oft im Zentrum seiner Songs stehen, hat er für Glory mit dem Input seines Teams geschrieben. Dazu gehört schon eine Menge Vertrauen und es ist gewissermaßen auch ein Kontrollverlust.
Ein Kontrollverlust, der sich positiv in dem Klangbild von Perfume Genius niederschlägt, das strahlender und verspielter erklingt als je zuvor. „Ich glaube, die Herausforderung für mich ist, nicht komplett passiv zu werden. Kollaborationen sind ein Mittelweg und ich bin eher der Typ: ganz oder gar nicht“, beschreibt Hadreas die Zusammenarbeit. Und schaut man sich das Leben von Perfume Genius so an, dann findet man auch diese Extreme. Drogensucht, Exzesse und waghalsige Situationen, die seine Zwanziger dominiert haben, sind ein stetiges Thema in seiner Musik. „Als ich aufgehört habe Drogen zu nehmen, habe ich weniger die Substanzen vermisst, als diesen Drang etwas Schlechtes zu tun. Ich wollte dreist sein und in verrückten Situationen landen. Dieser Drang hat sich in den letzten Jahren gelegt.“
Recherche zum Sterben
Auf Glory schreibt er diesmal nicht mehr von dieser Zeit oder von den Erinnerungen daran, doch die Extreme bleiben: In A Row fantasiert ein Kidnapping herbei, beschreibt die Situation detailliert, und Full On widmet sich einer einseitigen, herzzerreißenden Liebe. Doch im Unterschied zu seinen Zwanzigern scheint es gerade zu reichen, sich an diesen Ort hinzudenken: „Wenn etwas Aufregendes passiert, merke ich noch, wie ein kleines Feuer in mir auflodert. Aber ich bringe mich nicht mehr aktiv in diese Situationen. Ich schaue mir aber auch immer noch die verstörendsten Filme an.“ Ein weiterer Widerspruch, augenscheinlich. Denn natürlich ist diese intensive Auseinandersetzung mit den menschlichen Abgründen etwas, das Angst füttert und Stoff für Albträume liefert. Doch Hadreas erklärt nach einer Pause: „Es ist wie eine Art Recherche zum Sterben… Ich möchte alles spüren, um darauf vorbereitet zu sein, wenn es passiert.“
Und während seine Anxiety auf einem neuen Höhepunkt war, als er das Album schrieb, so scheint die Angst ausgerechnet jetzt ein bisschen in den Hintergrund zu rücken. Wir sprechen ein bisschen über unsere Gefühle in der aktuellen Weltlage: Tagtäglich werden Dinge, die bis dato Futter für unsere Angststörungen waren, Realität; Unberechenbarkeit gehört zur Tagesordnung. Und irgendwie stellen wir fest: Manchmal ist da plötzlich eine neue Ruhe. „Wir haben uns ja genau darauf vorbereitet.“ Hadreas vergleicht dieses schwer greifbare Paradoxon mit seiner Flugangst: „Wenn es dann wirklich mal Turbulenzen gibt, dann bin ich komischerweise ziemlich ruhig und denk mir: ‘Tja, das musste ja passieren.’ Das, worüber ich mir so viele Sorgen gemacht habe, passiert dann vielleicht, aber ich habe ja schon alles gefühlt und so gut wie verarbeitet.“
In dieser neuen Realität meldet sich ein fast pragmatischer und aktiver Part des Gehirns, der die Gedankenkreise links liegen lässt. „In den letzten Jahren habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren wird, und endlich Beweise dafür zu haben, fühlt sich anders an. Vorher waren all diese Sorgen internalisiert und isoliert.“ Hadreas zählt auf: die Feuer in L.A., Freund:innen, die sich auf Tour nicht mehr in die Südstaaten trauen, trans Personen in der Band, die um ihren Ausweis bangen. „Wir flüchten uns zueinander, sind füreinander da, versuchen lieb und süß zueinander zu sein und unterstützen uns. Wir versuchen ein Vertrauenssystem herzustellen, denn auf jedes größere System ist gerade kein Verlass.“ Ein Zwang füreinander da zu sein, bedeutet auch einen Zwang rauszugehen. Und während vorher die Türklingel zum Auslöser einer Panikattacke werden konnte und man erst dank Atemübungen und gutem Zureden das Haus verlassen konnte, um an der Welt teilzunehmen, ist es gerade der einzige Weg zu existieren, auch wenn es niemals der Instinkt ist.