Egal, ob Pop, Rap, Indie oder Rock: Es war ein außergewöhnlich starkes Jahr für Musikfans. Keine leichte Aufgabe, aus all der starken Konkurrenz eine Top 20 zu schmieden. Wir haben es dennoch getan. Hier kommen unsere Alben des Jahres. Welche stehen auch bei dir im Schrank?
Nick Cave – Wild God
Ein Triumph des Lebens über den Tod: Wild God von Nick Cave ist ekstatische Messe, vereinendes Ritual und kolossaler Befreiungsschlag in einem. Nach Jahren der Trauer und introspektiven Kunst öffnet sich Cave wieder, lässt Licht, Freude und Leben in seinen Sound. Wild God ist lebhaft und dynamisch wie seit 20 Jahren nicht, ein züngelnder Liebesbrief an die Existenz. Und Conversion ist einer der besten Songs, den er je mit Warren Ellis geschrieben hat.
The Cure – Songs Of A Lost World
Songs Of A Lost World ist das Comeback des Jahres. Und das nicht nur für Fans der englischen Schlechtwetterfront: Robert Smith steht an der Klippe, blickt zum Mond und singt vom Ende aller Dinge. 16 Jahre nach 4:23 Dream gelingt der prägenden Goth/Wave-Band ein spätes Meisterwerk, das Pornography oder Disintegration in nichts nachsteht. Selten jubelten Fans und Kritiker:innen in diesem Jahr derart einträchtig.
Taylor Swift – The Tortured Poets Department
Es war ihr Jahr, schon wieder. Taylor Swift hat mit The Tortured Poets Department nicht nur ein neues Album veröffentlicht, sondern auch eine neue Ära für ihre Tour geschaffen. Nachdem das Album inhaltlich als Verarbeitung eines Summer-Fling statt ihrer letzten großen Beziehung Fans erstmals schockte, empfingen sie es dann doch als neue Lieblings-LP. Und weil ein Taylor-Swift-Album in Standardlänge natürlich nicht ausreicht, legte sie mit TTPD: The Anthology direkt nach und bescherte uns 31 Songs. Wir können nur sagen: Danke Taylor für das Album und ein weiteres Jahr voller Swiftie-Energie.
Kendrick Lamar – GNX
Völlig ohne Ankündigung veröffentlicht – und über Nacht die Welt verändert. GNX zeigt Kendrick Lamar virtuos und poetisch wie immer, dazu aber ungeahnt brisant, kampfbereit und explosiv. Er disst nicht mehr nur Kollegen wie Drake und nimmt es lieber gleich mit der gesamten Welt auf. Klar ist das größenwahnsinnig. Lamar ist aber einer der wenigen, der das durchziehen kann. Weil er eben genau so gut ist. GNX ist ein loderndes, bissiges, offensives West-Coast-Werk aus der Feder einer der treibenden kulturellen Kräfte des Hip-Hop.
Fontaines D.C. – Romance
„Maybe Romance is a place“, singt Grian Chatten von Fontaines D.C. auf dem Titeltrack zu Romance. Die irische Band hat einen solchen Ort geschaffen, mit ihrem im August 2024 veröffentlichten Album. Obwohl bereits vergangene Projekte von melodischer Finesse strotzten und groß gefeiert wurden, übertrafen sich Fontaines D.C. mit ihrem letzten Projekt selbst. Mit der positiven Eigenschaft, sich nicht vor Experimenten zu scheuen, beweist die Fünfergruppe aus Dublin, dass ihre musikalische Reise nicht bei Post-Punk endet. Mit einer Mischung aus Nu Metal und 90s bringen sie auch vertonte Hip-Hop-Elemente und Indie-Melodien auf ihre elf Songs, von denen jeder einzelne ein Hit sein könnte.
Beyoncé – Cowboy Carter
Alle machen jetzt Country. Und bei Beyoncé ergibt es am meisten Sinn. Sie ist auf Rodeos mit dieser Musik aufgewachsen und ehrt mit ihrem unglaublichen Cowboy Carter die Schwarzen Wurzeln einer Musik, die in den USA jahrzehntelang unterdrückt oder zumindest ignoriert wurden. Mit nur einem Album bringt sie diese Persönlichkeiten besser spät als nie ins Rampenlicht, ist die erste Schwarze Frau, die eine Platte auf der Nummer Eins der Country-Charts hat und sichert sich die Dienste von Dolly Parton, Willie Nelson, Stevie Wonder, Paul McCartney und einer Plethora aufstrebender Schwarzer Country-Acts. Ein Akt der Rebellion, ein Triumph, ein überfälliger Befreiungsschlag.
Billie Eilish – Hit Me Hard And Soft
Das erste Album ein düsterer Club-Albtraum, das zweite eine bombastisch-orchestrale Aufarbeitung ihres Weges zum Ruhm. Welchen Weg würde Billie Eilish für ihr schwieriges drittes Album einschlagen? Die Antwort: den richtigen. Hit Me Hard And Soft ist eine der besten Pop-Platten des Jahres, die mit viel Gespür und Können zeigt, wie viel in dieser Musik möglich ist. Eilish und ihr Bruder Finneas verlassen sich selten auf das klassische Pop-Format, wechseln mitten im Song Tempo, Stimmung oder Genre und nehmen mit in ein wundersames emotionales Labyrinth. Das ist so seltsam, klug, traurig und weise wie Joni Mitchells Blue.
Charli xcx – Brat
Wenn 2024 eine Farbe wäre, dann ohne Zweifel ein saftiges Brat-Grün. Und ein Album, das es schafft, den Namen einer Farbe zu prägen, gehört auf alle Fälle ganz hoch hinauf in die Bestenlisten. Brat hat das geschafft, was vielen Neuerfindungen verwehrt wird: ein Experimentieren mit Genres, das mit Chartplatzierungen feierlich in den Mainstream aufgenommen wird. Charli xcx hat hier alles richtig gemacht, und mit einer anschließenden Veröffentlichung eines kompletten Remix-Albums noch viel richtiger.
Bazzazian – 100Angst
100Angst ist ein Album, das trotz seiner Brillanz weitgehend im Untergrund blieb. Der Produzent Bazzazian, zuvor vor allem bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Haftbefehl, versammelte für sein erstes Soloprojekt eine Reihe der aktuellsten Hype-Künstler:innen. Auf der Tracklist finden sich neben Schmyt (Lass los, 2019, Rottweiler) auch Namen wie Apsilon, Brutalismus 3000, Souly, Blumengarten, Casper und Levin Liam. Schon ohne reinhören zu müssen, wird klar: 100Angst ist ein außergewöhnliches Album, das mit versteckten Edwin-Rosen-Features zusätzlich besondere Highlights bereithält.
Sabrina Carpenter – Short n’ Sweet
Wie der Name schon verrät, ist Short n’ Sweet ein Album, das genau auf den Punkt bringt, was Sabrina Carpenter ausmacht: charmanten, perfekt produzierten, augenzwinkernden Pop. Mit ihren zwölf Tracks hat die Künstlerin 2024 sowohl die Radios als auch die Streaming-Charts erobert. Espresso wurde zum Sommerhit, während Songs wie Bed Chem auch nach Monaten noch nachklingen. Das Album, dessen Titel schmunzelnd auf Sabrina selbst anspielt, ist ein Pop-Kunstwerk, das nicht nur leicht ins Ohr geht, sondern auch beweist, dass Sabrina Carpenter als Künstlerin auf einem absoluten Höhepunkt ist.
The Libertines – All Quiet On The Eastern Esplanade
Nach neun Jahren Stille und langer Ungewissheit meldeten sich in diesem Jahr auch die Libertines zurück. Und das erfreulich stark: All Quiet On The Eastern Esplanade ist ein urenglisches, ahnungsvolles, gleichermaßen poetisches wie schnoddriges Bild einer englischen Küstenstadt, in der sich das Leben zwischen Pubs, großen Träumen und kleinen Kämpfen abspielt. Melancholisch, trocken und mit der Albion-Chuzpe wie sie nur ein Pete Doherty aufbringen kann. Nicht größer als das Oasis-Comeback. Aber kulturell definitiv wertvoller.
Gracie Abrams – The Secret Of Us
Niemand kann es leugnen: 2024 war das Jahr des Girly-Pop. Mit The Secret Of Us hat Gracie Abrams mit beinahe perfektioniertem Songwriting einen Soft-Touch in das Jahr aus bunten Pophits gebracht. Mit Songs wie I Love You, I’m Sorry oder Us. (featuring the one and only Taylor Swift) hat Gracie Abrams nicht nur einen Chart-Hit gelandet. Dazu wurde That’s So True zum Ende des Jahres auch noch zum hoffnungsvollen TikTok-Trend. Die 24-jährige Künstlerin hat mit dem Album definitiv das Musikjahr geprägt. Für Indie-Pop-Fans und alle, die es noch werden wollen.
Tyler, The Creator – Chromakopia
Völlig unerwartet veröffentlichte Tyler, The Creator sein neues Album Chromakopia – ohne große Promo und mit minimaler Vorbereitungszeit für seine Fans. Doch wie gewohnt setzte der Künstler mit seinem Langspieler neue Maßstäbe. Seine Vorliebe für Experimente zeigt sich auch hier: Der Sänger, Rapper, Songwriter, Produzent, Modedesigner, Regisseur und multidisziplinäre Künstler zeichnet sich durch ständiges Erproben neuer Elemente aus und verleiht mit einer cartoonhaften Ästhetik und kraftvollen Produktion Chromakopia seine unverwechselbare Handschrift.
St. Vincent – All Born Screaming
Mit All Born Screaming verlustiert sich eine entfesselte St. Vincent in ihrer ebenso verstörenden wie verführerischen Nine-Inch-Nails-Ära. Der Sound ist schonungslos und unapologetisch, die Drums werden trocken und wuchtig von Dave Grohl eingeholzt und ihr spektakuläres Gitarrenspiel ist eh über jeden Zweifel erhaben. Irgendwo zwischen Tori Amos und Industrial-Wüsteneien platziert sie ihre großen, lauten, starken Songs – ein ziemlicher Weg von Cruel Summer, den sie einst mit Taylor Swift schrieb.
Finneas – For Cryin’ Out Loud
Ein paar Monate nach seiner Schwester veröffentlichte auch Finneas sein neues Album. Und ließ es in Sachen Rummel natürlich deutlich ruhiger angehen. Nach Optimist hat einer der wichtigsten Produzenten seiner Zeit diesmal sein Zuhause in einem vollen, warmen Band-Kontext gefunden, der charmante Assoziationen zu den üppig produzierten Pop/Rock-Platten der amerikanischen Siebzigern weckt. Klar, seine Miete bezahlt er mit den Alben seiner Schwester. Doch auch abseits davon brilliert er mit feinstem harmonischem Songwriter-Handwerk.
Paula Hartmann – Kleine Feuer
Obwohl das Album Kleine Feuer von Paula Hartmann bereits zu Beginn des Jahres erschien, konnte es über die Monate schwer losgelassen werden. Die einzelnen Tracks brannten sich titelgetreu in Herz und Hirn. Songs wie Schwarze SUVs oder DILT (Die Liebe Ist Tot) sind eben keine Tracks, die nach einmaligem Hören wieder in der Plattenkiste verschwinden können. Um noch eines draufzusetzen, holte sich die Berliner Künstlerin eindrucksvolle Featuregäste wie Makko, T-Low, Trettmann, Domiziana oder Levin Liam auf das Album. Nach ihrem Debütalbum Nie verliebt aus dem Jahr 2022 zeigt Paula Hartmann mit Kleine Feuer, dass sie sich weiterentwickelt hat – emotionaler Gesang, tiefe 808s und poetische Texte verschmelzen zu einem Album, das bleibt.
Berq – Berq
Der beste Newcomer des Jahres – das suggerieren jedenfalls einige Auszeichnungen und Award-Verleihungen. Und wir sind nicht abgeneigt, zuzustimmen. Mit seinem Album Berq hat der gleichnamige Künstler bewiesen, dass er nicht nur ein vielversprechender Newcomer bleiben wird. Felix Dautzenberg nimmt uns auf zwölf Songs mit auf eine tiefenemotionale Reise. Eingängige Instrumentals und eine schmerzverzerrte Stimme begleiten dabei, die schwer glauben lassen, dass es sich hier um ein Debüt handelt. Nicht nur Taktgenauigkeit und stimmliche Exzellenz zeugen davon, auch auf lyrischer Ebene fühlt man jedes einzelne Wort mit dem jungen Künstler mit und denkt sich: „Wer hat dir nur so weh getan?“ – und gleichzeitig: „Danke, dass du diese Wunden, die du aufreißt, so schnell wieder heilst.“
Gwen Stefani – Bouquet
Noch ein Comeback! Retrospektiv wird 2024 definitiv als Jahr der Rückkehrer:innen in die Geschichte eingehen. Und das auch ihretwegen: Mit Bouquet veröffentlichte Gwen Stefani ihr erstes Soloalbum seit acht Jahren – und nähert sich klanglich dem satten Nashville-Pop der Siebziger an. Eine Country-Platte ist das deswegen noch lange nicht, doch es lässt sich zu vielen Songs vorzüglich Hut tragen.
Bibiza – Bis einer weint
Spät im Jahr erschienen und dennoch durch die Decke gegangen: Bis einer weint ist Bibizas zweites Studioalbum und zeigt erneut, warum der Wiener Musiker so in die Höhe geschossen ist. Mit seinem unverwechselbaren Charme und Tracks wie aufnimmerwiederschaun, Donau und der Single Tanzen bleibt Bibiza seiner musikalischen Handschrift treu. Er hat seinen Stil gefunden und liefert ein Album, das ehrlich und mitreißend ist – und dabei ganz typisch Bibiza bleibt.
Michael Kiwanuka – Small Changes
Wenn warmer, bittersüßer, opulenter Neo-Soul, dann von niemand anderem als von Michael Kiwanuka. Der Londoner Soul-Crooner wohnt mittlerweile zwar an Englands Südküste; Melancholie, sanfte, getragene Arrangements und aufblitzende Sonnenstrahlen lassen sich offenkundig auch da unten hervorragend einfangen. Ein großes, dezent poppigeres Album mit grandioses Chören, Funk-Bassläufen, spitzen Streichern und dem Mut zur großen Geste.