Polly Jean Harvey zählt zu den besten Songwriter*innen der letzten 30 Jahre. Das ist keine Meinung, sondern institutionell verbürgt: Als einzigem Act überhaupt gelang es ihr, zwei Mal den Mercury Prize zu gewinnen, den wichtigsten Musikpreis ihrer britischen Heimat.
von Michael Döringer
Seit dem ungezähmten Alternative-Sound ihrer Anfangstage ist viel passiert und mit jedem Album konnte PJ Harvey ihren Sound wieder ein wenig neu erfinden. Einen solchen Spannungsbogen über eine so lange Karriere aufrecht zu erhalten, gelingt nur selten. Wo soll man anfangen, wo weitermachen? Wir haben ihr Werk in 10 Songs zusammengefasst.
1. Sheela-Na-Gig (von Dry, 1992)
Dass PJ Harvey eine der talentiertesten Songwriterin der 1990er-Jahre werden würde, war schon auf ihrem Debütalbum offensichtlich. Sheela-Na-Gig war ihre zweite Single und bringt den Sound der frühen Harvey auf den Punkt: Irgendwo zwischen Post-Punk und Blues-Rock fährt sie emotional-nervöse Geschütze auf, in denen sie zwar nicht so vordergründig politisch wird wie die in den USA gleichzeitig stattfindende Riot-Grrrl-Bewegung, aber ganz klar auf weibliche Konventionen abzielt. PJ Harvey praktiziert Ermächtigung – das empfinden viele befreiend, und manche natürlich als unbequem.
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2. Rid Of Me (von Rid Of Me, 1993)
Rid Of Me führt den Sound des Debüts fort. Harvey und ihre Band (die ersten beiden Alben entstanden in Trio-Besetzung mit Drummer Rob Ellis und Bassist Steve Vaughan) bekamen im Studio Unterstützung von Steve Albini, der mit seiner extrem dynamischen Produktion den Songs noch mehr Kante, noch mehr Intensität verlieh. Der Titelsong ist das beste Beispiel dafür, wie gut PJ Harvey auch darin ist, eine Spannung aufzubauen, die unweigerlich zur Eruption führt, und wie leicht sie sich damit tut, auch ohne konventionelle Songstrukturen eine rockige Dramaturgie zu erzeugen.
3. Down By The Water (von To Bring You My Love, 1995)
To Bring You My Love markiert PJ Harveys Durchbruch im Mainstream und Down By The Water ist einer ihrer bekanntesten Songs. Auf diesen Song in einer Playlist ihrer Songs zu verzichten, wäre so, als würde man in einer Biographie von Leonardo da Vinci die Mona Lisa nicht erwähnen, kommentiert die Zeitung The Guardian dieses Meisterwerk. Der Song erzählt von einer Mutter, die ihre Tochter in einem Fluss ertränkt, eine brummende Orgel und ein gespenstisches Cello machen deutlich, dass PJ Harvey längst größere Ambitionen als aggressiven Alternative-Rock hat. Die Vergleiche mit Nick Cave waren mehr als angebracht.
4. Civil War Correspondent (von Dance Hall At Louse Point mit John Parish, 1996)
Ihr nächstes Solowerk schob Harvey auf und veröffentlichte zunächst ein gemeinsames Album mit John Parish, der schon bei der Produktion von To Bring You My Love half. Doch die Platte war mehr als nur eine Kollaboration, und schon gar nicht Parishs Album, auf dem Harvey nur gastierte: Sie schrieb alle Texte, übernahm die Co-Produktion und machte mit Vocals wie denen von Civil War Correspondent so gut wie jeden Song zu ihrem eigenen. Musikalisch entsteht durch Parishs ästhetische Vorlieben ein spannender Mix, der dieses Album zu einem wichtigen Eckpunkt in Harveys Diskografie macht.
5. Angelene (von Is This Desire?, 1998)
Harveys viertes Studioalbum Is This Desire? entstand während einer Phase der Isolation in ihrem Heimatort, der kleinen Stadt Yeovil im englischen Süden. Sie zog sich zurück vom Tourstress, der vielen Aufmerksamkeit und musikalischen Trends, und das hört man auf dieser Platte: Subtil instrumentiert erkundet sie die Möglichkeiten des literarischen und narrativen Songwritings. Mit Songs wie Angelene ist Is This Desire? vielleicht der beste Einstieg für alle, die eine ruhige und schwelgerische Atmosphäre bevorzugen, in der dennoch Feuer und Bedeutung brodeln.
6. The Mess We’re In (von Stories From The City, Stories From The Sea, 2000)
Es fühlt sich ein bisschen ungerecht an, ausgerechnet dieses Duett mit Thom Yorke stellvertretend für Harveys definitives Pop-Album zu wählen, denn es gibt so viele tolle Songs, mit denen sie auf dieser von New York City beeinflussten Platte allein im Rampenlicht steht: das treibende Good Fortune, das noch rockigere This Is Love. Der Radiohead-Frontmann färbt typisch bedrückend/beglückend auf die Stimmung von The Mess We’re In ab, im Klagen und Murmeln der beiden entsteht einer der besten weil stolzesten Trennungssongs, die je geschrieben wurden.
7. Shame (von Uh Huh Her, 2004)
Oh oh, sie schon wieder – so kann man den Titel von Harveys nächstem Album verstehen. Es drückt die latente Antihaltung aus, mit der PJ Harvey sich in ihrer Karriere oft konfrontiert sah. Mit ihrer ständigen Neuerfindung entzog sie sich immer wieder einfachen Zuordnungen und provozierte als immer unabhängiger agierende Künstlerin die ganze Industrie. Harvey gehört alleine deshalb zu den ganz Großen, weil sie nie eine – keine einzige – schwächere Platte gemacht hat. Auf Uh Huh Her wurden ihre Songs nach Stories wieder düsterer und roher, Shame brummt und galoppiert mit Folk- und Grunge-Elementen in ein weites, offenes Feld, das sie auf späteren Alben noch genauer erkunden sollte.
8. White Chalk (von White Chalk, 2007)
Zunächst schlug sie allerdings wieder einen unerwarteten Haken: White Chalk steht ganz im Zeichen britischer Folk- und Gothic-Romantik. Auf dem Cover wirkt sie wie ein bleicher Geist, doch in den Songs und leisen Balladen fließt pochend das Blut, auch wenn sie noch so zart und zurückhaltend mit Klavier und sanften Gitarrenstreichern instrumentiert sind. Es ist eines der Alben, auf denen sie eine vollendet erzählte kleine Welt entstehen lässt.
9. The Last Living Rose (von Let England Shake, 2011)
Auf Let England Shake zeigt PJ Harvey erneut, wie wandelbar und erfindungsreich sie als Künstlerin und Songwriterin ist, wie sie sich scheinbar mühelos neuen großen Themen annehmen kann. Hier nimmt sie das Verhältnis zu ihrem Heimatland unter die Lupe und macht daraus ein Konzeptalbum über den Ersten Weltkrieg. Das Album ist voller tragisch-schöner Anti-Nationalhymnen, die politische Fragen unter historischem Deckmantel stellen. Und Harvey schafft es auch noch, sich dabei selbst zu zitieren – The Last Living Rose erinnert in seiner musikalischen Unbekümmertheit an ihre frühen Jahre.
10. The Sandman feat. Gillian Anderson (von All About Eve OST, 2019)
Auf ihrem bis dato letzten Studioalbum The Hope Six Demolition Project (2016) entwickelte Harvey das historisch-politische Konzept von Let England Shake brillant weiter. Eine ihrer aktuellsten Veröffentlichung ist aber der Soundtrack zur Bühnenadaption des Filmklassikers All About Eve. Für zwei der Songs, unter anderem The Sandman, ließ Harvey die Vocals von den Hauptdarstellerinnen Lily James bzw. hier Gillian Anderson einsingen. Einfach wundervoll. Ein neues Album von PJ Harvey ist zur Zeit noch nicht angekündigt, doch solche dramatisch inspirierten Auftragsarbeiten – zuletzt auch für die TV-Serie The Virtues – zeigen, wo die Reise hingehen und wie viel Talent hier immer noch entfesselt werden kann.
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