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Foto: Mike Coppola/Getty Images

45 Jahre „Trans Europa Express“ von Kraftwerk: Das wichtigste Elektro-Album aller Zeiten

Von wegen „Futuristen-Kitsch“: Im Jahr 1977 läuten Kraftwerk mit Trans Europa Express eine neue musikalische Zeitrechnung ein. Ohne dieses Album – und insbesondere eine gewisse Maßanfertigung – wäre die Geschichte der elektronischen Musik gänzlich anders verlaufen.

von Björn Springorum

Hier könnt ihr euch Trans Europa Express von Kraftwerk anhören:

Kraftwerk sind die Pioniere der elektronischen Musik, die Wegbereiter des Techno und locker die einflussreichste Band, die je aus Deutschland kam. 1977 ist es aber noch gar nicht so lang her, dass sich die Krautrock-Band den Rock‘n‘Roll abgewöhnt hat: Ihr im Oktober 1975 veröffentlichtes Album Radio-Activity ist nach dem Ausstieg von Gitarrist Klaus Roeder das erste rein elektronische, ein Fingerzeig für das, was sich im März 1977 zu voller Blüte entwickeln wird. Die Monate dazwischen nutzt die Band für eine Metamorphose. Fur Roeder kommt Karl Bartos, der das ikonische Line-Up aus Florian Schneider, Ralf Hütter und Wolfgang Flür komplettiert.

Reisen durch Frankreich und David Bowie

Die ausschweifenden Partys und der Alkoholkonsum vor, während und nach den zahlreichen Konzerte finden ein jähes Ende. Stattdessen fährt die Band mehrfach mit dem Trans-Europ-Express nach und durch Frankreich, wohnt der Tour de France bei und lässt sich von der Muse des Reisens küssen. Die legendären Züge, die zwischen den Fünfzigern und den Achtzigern ganz Europa durchmessen, ausschließlich Erste-Klasse-Abteile besitzen und auf klangvolle Namen wie Aurora, Bacchus oder Merkur hören sollen einen bleibenden Eindruck bei Kraftwerk hinterlassen. Eine Begegnung mit David Bowie und Iggy Pop tut ihr Übrigens, um die Synapsen der Düsseldorfer anzuheizen.

Die Zukunft ist klobig

Zurück im eigenen Kling-Klang-Studio erschaffen Kraftwerk die Zukunft der elektronischen Musik. Sie trifft in Form des bahnbrechenden neuen Sequenzers des Typs Synthanorma in Düsseldorf ein, ein futuristisches Gerät, das erstmals die ständige Wiederholung bestimmter Muster ermöglicht. Das Ding ist natürlich keine Stangenware, sondern eine Maßanfertigung für die Band, erschaffen 1976 von der Firma Matten & Wiechers mit einer stattlichen Auflage von zwei Exemplaren. Dirk Matten persönlich gibt folgendes Nerd-Wissen preis: „Der Synthanorma Sequenzer 316 verfügt mit der Einheit ‚Intervallomat‘ als erster Sequenzer über die Möglichkeit, Halbtonschritte über den gesamten musikalischen Bereich per Stufenschalter mit Zahlenanzeige einzustellen.“

Unter Eisenbahnbrücken

Was er damit sagen will ist: Dieser klobige Kasten allein ebnet den Weg für Techno, House und Hip-Hop. Im Besitz dieser Zaubermaschine setzen Kraftwerk all ihre Ideen um, die sie auf reisen gesammelt haben. Wenn sie nicht im Studio die Zukunft der Musik erfinden, reisen Kraftwerk zu Eisenbahnbrücken, um sich anzuhören, welche Geräusche die Züge beim Überqueren machen. Was man halt so treibt.

Die neue Technik erlaubt Kraftwerk einerseits deutlich längere Lieder; andererseits erschaffen sie auf Trans Europa Express eine durch und durch monotone, maschinelle, industrielle Grundstimmung, die die Themen der Songs perfekt reflektiert. Europa Endlos, der zehnminütige Opener, nimmt mit auf eine Reise durch den ganzen Kontinent – ein Thema, das sie im wegweisenden Titelstück gleich noch mal aufgreifen. Trans Europa Express ist überhaupt in seiner visionären Großartigkeit kaum zu fassen. Nicht nur, dass das Lied ein Motiv aus der 1. Kammersinfonie von Arnold Schönberg zitiert, dem Geburtshelfer der Neuen Musik: Gemeinsam mit Metall auf Metall und Abzug haben wir es hier mit einem Triptychon zu tun, dessen repetitiver Rhythmus einen fahrenden Zug nachahmt und nicht zufällig an David Bowies erst im vorigen Jahr erschienenes Station To Station erinnert.

Klangliche Ode an Europa

Natürlich wusste man 1977 schon, wie genial, wie wichtig und wie radikal avantgardistisch Kraftwerk sind. Trans Europa Express toppt das alles noch mal, deutet die Düsseldorfer Schule radikal um und beschwört eine Zeitenwende herauf. Kraftwerk, als Nachkriegskinder ohne nennenswerte Popkultur aufgewachsen und deswegen beeinflusst von der Weimarer Republik, Bauhaus oder später Karlheinz Stockhausen, schreibt sich einfach ein eigenes Narrativ. Ein Narrativ, in dem diese klangliche Ode an Europa einen zentralen Platz einnimmt.

Trans Europa Express erfüllt noch einen anderen Zweck. Nachdem man sich durch Songs wie Autobahn insbesondere von britischen oder amerikanischen Journalisten zu Unrecht in die Nazi-Ecke gedrängt sah, können sie mit diesem Album und seinem Erscheinen in sowohl deutscher als auch englischer Sprache endlich eine europäische Identität transportieren.

Nur „Futuristen-Kitsch“?

Was bleibt, ist ein elektronischer Blues, der den Minimalismus zur Kunstform erhebt. „Wenn wir eine Idee mit zwei Noten ausdrücken können, ist das besser, als 100 Noten zu spielen“, so wird Hütter zitiert. Es ist die bis heute präziseste Definition für Techno. Das Spannende ist aber, dass dieses Album nicht nur die elektronische Musik, wie wir sie kennen, gebiert. Auch in der frühen Hop-Hop-Kultur spielt Trans Europa Express eine entscheidende Rolle. DJ-Pioniere wie Afrika Bambaataa samplen schon früh Stücke dieses Albums und lassen sich davon inspirieren.

Aber man könnte eh Bücher über den Einfluss dieses Albums füllen. Ob Joy Division, Radiohead oder Madonna: Kaum jemand ist nicht inspiriert von Trans Europa Express, sodass der Musikjournalist Randall Roberts das Album im Jahr 2014 als „wichtigstes Pop-Album der letzten 40 Jahre“ würdigte. Man könnte auch sagen: Trans Europa Express ist das The Dark Side Of The Moon der elektronischen Musik. Nur der Spiegel sieht das damals anders: 1981 straft er das Album als „Futuristen-Kitsch“ ab. Heute, 45 Jahre nach Veröffentlichung, ist man auch da hoffentlich schlauer.

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