Joni Mitchells Karriere kann man nicht quantifizieren oder zusammenfassen. Schon gar nicht in zehn Songs. Wir haben es dennoch getan. Hier kommt unsere Top Ten einer der wichtigsten Frauen der Popkultur.
von Björn Springorum
Joni Mitchell ist eine zeitlose Meisterin. Eine der ganz Großen, eine Gigantin der Popkultur. Sie hat uns ein Werk geschenkt, das ebenso einflussreich ist wie das von Bob Dylan, ebenso gravitätisch wie Leonard Cohen, ebenso eklektisch wie das von Neil Young. Ihre Lieder werden noch in 50 Jahren gesungen werden und dann immer noch jene ungewöhnliche, unverkennbare Aura besitzen. „Ich lebe von Veränderungen“, sagte Mitchell mal. „Das ist wahrscheinlich der Grund, warum meine Akkordwechsel so seltsam sind, denn Akkorde stellen Gefühle dar. Sie bewegen sich in einer Tonart, und ich stürze von einer Klippe, und plötzlich wechseln sie in eine ganz andere Tonart. Das wird einige Leute verrückt machen, aber so ist mein Leben nun mal.“
Legendäre Liedermacherin, Folk-Ikone, Pop-Neuvermesserin, Jazz-Sängerin: Zum 80. Geburtstag dieser Ikone haben wir mal den Versuch gewagt, ihre zehn besten Songs zu kompilieren. Fast ein Ding der Unmöglichkeit, schon klar. Aber wir wollten es wenigstens mal versuchen.
Both Sides Now (1969)
1969 kennt man Joni Mitchell als ausgezeichnete Songwriterin. Nur ein eigenes Album fehlt noch. Aber nicht mehr lang: Nachdem erst Judy Collins’ Aufnahme von Both Sides Now zum Hit wird, nimmt Mitchell die Nummer auch auf und packt sie auf ihr Album Clouds. Es wird ein großer Hit und ist bis heute einer ihrer beständigsten Songs: Eine herzzerreißende Reflexion über die Illusion der Liebe.
Chelsea Morning (2019)
Das unbeschwerte, folkige Chelsea Morning wurde schon von Judy Collins, Fairport Convention oder Jennifer Warnes interpretiert, bevor sich Joni Mitchell 1969 daran versucht. Aber wie sie hier einen herrlich unschuldigen Bohème-Alltag besingt, sticht locker alle anderen Aufnahmen aus. Chelsea Morning ist wie ein Tagebucheintrag aus einer Zeit, als sie ein glückliches und hoffnungsfrohes Leben im New Yorker Stadtteil Chelsea führte, bevor sie berühmt wurde. Zeitlos schön.
Turbulent Indigo (1994)
Viele Ikonen der Sechziger haben in den Achtzigern eine schwere Zeit. Die Mitchells, Dylans und Baez-es leiden unter den omnipräsenten Synthies und Drumcomputern, die nicht weiter von ihren seelenvollen, nackten Akustiksongs entfernt sein könnten. Auch Mitchell irrt durch den Dschungel der Achtziger, findet sich jedoch spätestens 1994 wieder – mit dem grandiosen Album Turbulent Indigo, dessen Titelsong ihre bis dato 30 Karrierejahre perfekt destilliert und zeigt, wie zeitgemäß auch eine Bardin der Sechziger klingen kann.
River (1971)
Einer ihrer beliebtesten Songs wurde bislang 432 Mal von anderen Künstler*innen aufgenommen – mehr als jede andere ihrer Kompositionen. Die zarte Verletzlichkeit des Originals wird aber für immer unantastbar bleiben. Liegt natürlich auch am Background: Wir können davon ausgehen, dass Joni Mitchell den Song über ihre zerrüttete Liebesbeziehung zu Graham Nash geschrieben hat. Nichts tut eben so weh wie wahre Liebe.
Big Yellow Taxi (1970)
Selbst wenn Joni Mitchell Radiopop schreibt, macht sie das klug, doppelbödig und mit Haltung: Big Yellow Taxi entsteht auf Hawaii und ist heute einer ihrer größten Hits. „Ich nahm ein Taxi zum Hotel, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, warf ich die Vorhänge zurück und sah diese wunderschönen grünen Berge in der Ferne“, so erinnerte sie sich später. „Dann schaute ich hinunter und sah einen Parkplatz, so weit das Auge reicht, und es brach mir das Herz – dieser Schandfleck im Paradies.“ Im Widerspruch dazu steht die flotte Folk-Melodie mit Doo-Bap-Chören. Aber das macht den Song nur umso interessanter.
Woodstock (1970)
Vielleicht liegt es ja daran, dass sie wegen eines TV-Auftritts gar nicht selbst in Woodstock sein konnte: Ihre Variante der Blumenkinderhymne wird von einer gespenstischen, elegischen Aura getragen, die in eine ganz andere Kerbe schlägt als die früher veröffentlichte und bekanntere Version von Crosby, Stills, Nash & Young. Was nicht alle wissen: Die Nummer ist von ihr, geschrieben nachdem ihr Graham Nash von dem Festival erzählt hat. Und irgendwie fängt sie den Geist dieses Events damit besser ein als alle anderen, die vor Ort waren.
Coyote (1976)
Auch so ein ewiger Klassiker: Coyote schreibt Joni Mitchell 1976 über den Dramatiker Sam Shepard, mit dem sie eine kurze Beziehung hatte. Ungewöhnlich direkt singt sie darüber, wie schwer es ist, sich auf andere Menschen einzulassen und wie viele Opfer man für die Liebe bringen muss. Dazu gelingt ihr mit wunderbar distanzierter Mühelosigkeit ein großes Stück Musik. Kann so auch nur sie.
A Case Of You (1971)
Puh, was für ein dräuendes Liebeslied: „Just before our love got lost you said – I am as constant as a northern star – And I said, constant in the darkness – Where’s that at? – If you want me I’ll be in the bar“, singt sie. Mal ehrlich, wer schreibt denn sonst solche Texte? Mitchell trägt das Herz oft auf der Zunge, aber manchmal eben weniger und manchmal, wie hier, mehr. Viel viel mehr.
The Hissing Of Summer Lawns (1975)
Mal Lust, einen perfekten Song zu hören? Bitteschön. Der Titeltrack zu ihrem 1975er Album The Hissing Of Summer Lawns zeigt Joni Mitchell auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Vordergründig entspannt und leicht psychedelisch, wird die schwüle Hitze eines kalifornischen Nachmittags mit einer düsteren Note konterkariert – Dekadenz trifft Dunkelheit.
Blue (1971)
Blue ist ihr größtes, ihr wichtigstes, ihr bestes Album. Auf ewig. Und der Titelsong zeigt Joni Mitchell in einer wunden Verletzlichkeit, die sie in ihrer Karriere vielleicht kein zweites Mal so intensiv eingefangen hat. Der neblige Song ist eine düstere und grüblerische Botschaft an alle diejenigen, die eine Leere in sich füllen möchten, ein funebres Schlaflied, inspiriert von ihrer Beziehung zu James Taylor und dessen Heroinsucht. Schwer verdaulich, aber absolut perfekt.
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