Ein Vierteljahrhundert „Murder Ballads“: Nick Caves widerwilliger Flirt mit dem Mainstream
popkultur05.02.21
Als Nick Cave und seine Bad Seeds am 5. Februar 1996 ihre morbiden Murder Ballads präsentieren, geraten zwei Entwicklungen in Gang: Cave selbst wird unfreiwillig zum MTV-Posterboy. Und Kylie Minogue bekommt Anerkennung aus gänzlich unerwarteter Ecke. Chronik eines Erfolgs wider Willen.
von Björn Springorum
Hört hier Nick Caves Murder Ballads:
Eigentlich ist Nick Cave zu Beginn der Neunziger bereits ein größerer Star als er das jemals für möglich gehalten hätte. Heroin, ein Krähennest auf dem Kopf, erratisches Verhalten, sein schwieriges Verhältnis zur Presse und morbide, funebre, todesschwangere Lieder über die abergläubischen Sümpfe der Südstaaten konnten nicht verhindern, dass der Australier zur dämonischen Galionsfigur der düsteren Indie-Szene wurde. Ein Halbgott wider Willen, entstiegen dem krachigen Post-Punk-Dunst von The Birthday Party und mit den Bad-Seeds-Platten Kicking Against The Pricks, Your Funeral… My Trial und Tender Prey ins Pantheon der Untergangsprophet*innen eingezogen.
Lustmord und wilde Rosen
Nach rauschhaften Jahren in Australien, London, Berlin und New York zieht Cave 1990 nach São Paulo und wird in der Sonne Brasiliens clean. Wie immer im Leben des australischen Musikers hat sein Privatleben direkten Einfluss auf die Art der Musik, die er macht: Nach dem fiebrigen, schwelenden Southern-Gothic-Sound der letzten Jahre findet man ihn vermehrt hinter dem Piano. Schon The Good Son deutet 1990 an, was Mitte der Neunziger mit den Murder Ballads passieren wird. Vorbereitet ist Nick Cave darauf nicht.
Und die Grundidee, die klingt ja auch zunächst mal nicht besonders erfolgversprechend: Eine „murder ballad“ ist ein Stück über Lustmorde, meistens mit tödlichem Ausgang. Die Wurzeln dieser Mordballaden liegen Jahrhunderte zurück, Cave und seine Bad Seeds holen sie in ihre ganz eigene gepeinigte Mythologie, angesiedelt in einem gotischen, biblischen, trunkenen Setting. Wo die wilden Rosen wachsen und sich der Aberglaube auf die warme Haut legt wie ein salziger Schweißfilm.
Schluss mit Lolita, her mit der Wasserleiche
Gefundenes Fressen für diese Band, die mit Stücken wie dem boshaften Cover von Stagger Lee, dem wehmütigen Folk-Traditional Henry Lee oder dem nervös zuckenden, grölenden Spelunkenlied The Curse Of Millhaven alle Register ihres unheilschwangeren Könnens ziehen. Dann ist da aber eben noch eine Nummer namens Where The Wild Roses Grow, die Cave in einem ungewöhnlichen Duett mit Kylie Minogue singt. „Ich dachte schon beim Schreiben an Kylie“, sagte Cave 2007 in einem australischen Interview über seine Landsfrau. „Ich wollte schon einige Jahre lang einen Song für sie schreiben und war rund sechs Jahre lang regelrecht besessen von ihr. Ich schrieb mehrere Stücke, aber keins fühlte sich richtig an.“
Was es wohl zu bedeuten hat, dass es ausgerechnet eine Nummer wurde, die auf einem Dialog zwischen einer Frau und ihrem Killer basiert, wollen wir vielleicht lieber gar nicht wissen. Kylie Minogue ist sofort begeistert von der Idee und sagt einen Tag später zu. Sie ist merklich angetan von der Idee, mal aus ihrem Image zwischen kindlicher Pop-Prinzessin und lustvoller Lolita auszubrechen. Selbst wenn das bedeutet, von Nick Cave getötet zu werden und als Wasserleiche zu enden. Alles Schöne muss vergehen. „Es ist für sie ein gefährlicher Song“, sagte Cave damals. „Sie ist mit diesem Projekt ein großes Risiko eingegangen, und das bewundere ich.“
Meine Muse ist kein Rennpferd
Am Ende ist es doch eher der Schmerzensmann, der unter diesem Lied leidet. Der unverhoffte Erfolg der Nummer bringt ihn weltweit in die Charts und ins Musikfernsehen, in Deutschland allein verkauft sich die Single mehr als 250.000 Mal. Die temporäre Mainstream-Aussetzung bringt Nick Cave sogar eine Nominierung bei den MTV Video Music Awards für den besten männlichen Künstler ein. Auf seinen eigenen Wunsch wird die Nominierung zurückgezogen, er begründet die Entscheidung in einem berühmten Brief an MTV, der hier zu lesen ist:
„My muse is not a horse and I am in no horse race and if indeed she was, still I would not harness her to this tumbrel — this bloody cart of severed heads and glittering prizes. My muse may spook! May bolt! May abandon me completely.“
Ihm ist wichtig, das nicht als Arroganz verstanden zu wissen. „Ich weiß ja, dass ich ein Teil von MTV bin“, sagte er 1998. „Ich erhebe mich nicht darüber. Ich stecke mit ihnen unter einer Decke wie jeder andere auch: Ich schicke ihnen meine Videos und entweder sie spielen sie oder eben nicht. Ich bin nur der Meinung, nicht zu ihren verdammten Galas gehen zu müssen.“ Außerdem gab er mal zu, den Brief high geschrieben zu haben. Da denkt man ja vielleicht ein wenig anders über gewisse Dinge.
Blutdurst für den Mainstream
Die Reaktion zeigt aber keine Hochnäsigkeit. Sie zeigt eher Verwirrung, Hilflosigkeit und die heillose Überforderung, die Nick Cave im unerwartet gleißenden Licht des Popbusiness erfasst wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Und es ist ja auch ziemlich absurd, dass ein blutrünstiges, lüsternes, dunkelpoetisches Stück Musik über eine mit einem Stein erschlagene Frau ein derartiger Erfolg wird. Es dürften also nicht wenige Augenbrauen in die Höhe gegangen sein, wenn man sich nach der Single auch die ganze Murder Ballads kaufte und direkt hineintaumelte in diese böse, mörderische, sexuell aufgeladene und angetrunkene Bänkelparty an der Schwelle zum Jenseits, die einen höheren Bodycount hat als jede Slayer-Platte.
Nick Cave sammelt sich nach diesem unerwarteten Intermezzo, wischt sich den Glamour von den schmalen Schultern und bringt kaum ein Jahr später das berührende The Boatman’s Call heraus. Diesmal ganz ohne Duette. Und Kylie? Die durfte sich über unerwartete Anerkennung aus den Reihen selbsternannter Musikkritiker*innen (vorwiegend männlich) freuen. „Dieses Lied ist bis heute eines meiner liebsten überhaupt“, sagte sie mal. Ob Cave das nach all dem Tumult auch noch so sieht?
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