„The Marshall Mathers LP“ von Eminem: Wie ein weißer Junge aus Detroit Hip-Hop zur wichtigsten Musik der Welt machte
popkultur23.05.20
Ein weißer Junge aus den Suburbs von Detroit wird im Jahr 2000 der erfolgreichste Rapper aller Zeiten. Eminem, diese ewig polarisierende Figur der Popwelt, sicherte sich mit seinem zweiten ordentlichen Album die Gunst eines Massenpublikums und den Respekt der Rap-Szene. Es muss eine überwältigende Zahl von Kids geben, die genau deswegen mit dem Rappen angefangen haben. Wie war das eigentlich möglich?
von Michael Döringer
Ein Rapper im Pop-Olymp
The Marshall Mathers LP ist gar nicht so einfach zu fassen. Gesellschaftssatire und pubertäre Blödeleien, Hardcore-Rap mit Horrorcore-Einschlag, dazwischen die engelsgleiche Stimme von Dido im Superhit Stan, die den manisch wütenden Marshall Mathers mal ein bisschen über den Kopf streichelt. Dass dieser fast wirre Mix stimmig zusammengehen konnte, ist eine der großen künstlerischen Leistungen von Eminem. Sein markanter Stil fand großen Anklang: Als The Marshall Mathers LP im Mai 2000 erschien, wurde es in den USA zum sich am schnellsten verkaufenden Album aller Zeiten: 1,78 Millionen Tonträger in der ersten Woche. Nur *NSYNC und Adele konnten das seither überbieten. Eminem ist der einzige Hip-Hop-Act, der mit seinen Alben in Sachen Verkaufszahlen ganz oben in den ewigen Bestenlisten mitmischt.
Skills und Respekt
Ein offensichtlicher Grund für dieses Wunder: Eminem ist tatsächlich auch einer der besten Rapper ever, mindestens was das technische Können betrifft. Das behaupteten nicht etwa nur 13-jährige Mittelstandskids, die durch MTV und Eminem Hip-Hop entdeckt hatten. Es ist schlicht Konsens in der Rap-Szene, damals wie heute. Kaum ein Rapstar, der nicht von Eminems Skills schwärmt: „Eminem ist einer der Größten überhaupt“, sagte Kendrick Lamar. „Niemand kann ihm diese Position streitig machen.“ Auch MC-Legende Rakim respektiert Ems Genie und spricht eine wichtige Erkenntnis aus: „Hautfarbe spielt keine Rolle. Wahre Künstler*innen respektieren andere wahre Künstler*innen.“
Hip-Hop für alle
Der Gegensatz des erfolgreichen weißen Künstlers in einer ursprünglich schwarzen Musikszene wird nichtsdestotrotz immer wieder diskutiert. Kulturelle Aneignung ist kein Thema von heute, sondern in der Black Music ein alter Hut. Doch Eminems Kunst wird schließlich von allen Seiten respektiert. Und gerade er hat entscheidend dazu beigetragen, dass Hip-Hop heute die weltweit vorherrschende Musikkultur ist. Wiz Khalifa bringt es in einem Interview auf den Punkt: „Dank Eminem können heute alle an Hip-Hop teilhaben.“ Er habe diese Sphäre für die ganze Welt geöffnet. Früher war dieser Lifestyle voraussetzungsreich, man musste ein bestimmtes Leben führen, bestimmte Dinge tun und wissen, wollte man dazugehören. Jetzt war Hip-Hop für alle da.
https://www.udiscover-music.de/popkultur/10-songs-die-jeder-eminem-fan-kennen-mussDie Evolution des Slim Shady
Doch technisch versierte Rapper gibt es viele, und Eminems Rap-Skills waren nicht der entscheidende Grund, wieso gerade er so erfolgreich wurde, auch wenn sie die Basis dafür bilden. Hätte er es in dieser Hinsicht nicht draufgehabt, wäre er wohl kaum über seine lokale Szene hinausgekommen. Der Unterschied ist: Eminem entfaltete ein völlig eigenes, im Hip-Hop nie dagewesenes künstlerisches Universum. Er profitierte natürlich auch enorm von Dr. Dre, der Produzentenlegende und Schlüsselfigur im Rap-Business, die den jungen Eminem unter ihre Fittiche nahm und schon sein Major-Debüt The Slim Shady LP (1999) produzierte.
Witz und Wahrheit
Was Eminem auf diesem bereits sehr erfolgreichen Album zeigte, konnte er auf dem Nachfolger noch ausführlicher, noch pointierter, noch besser wiederholen: The Marshall Mathers LP ist zugleich witziger und düsterer, Eminem spitzt seine Songwriting-Kunst dermaßen zu, dass man endgültig die Orientierung verliert: Wo hören die Jokes auf, wo fangen die Wahrheiten an? Könnten seine satirischen Tiraden gegen alles und jeden beides zugleich sein? Wie soll man umgehen mit den vulgären Scherzen, den Beleidigungen unter der Gürtellinie, den Gewaltfantasien und verbalen Angriffen auf Frauen und Homosexuelle? Die Antworten kann jeder selbst in der Musik suchen. Eminem muss sich dieser Kritik natürlich stellen. Gleichzeitig kann man die ausgeprägte Welt bewundern, die er für seine Kunstfigur erschuf. The Marshall Mathers LP war ein Rap-Blockbuster, der auch die nüchternsten Betrachter*innen überwältigen konnte.
Fette Beats für Popfans
Zwischen der balladesken Einfühlsamkeit von Stan und der Aggression von The Way I Am schöpft er auf dieser Platte das größtmögliche Crossover-Potenzial von Hip-Hop aus, ohne sich bei einem anderen Genre anzubiedern oder grobe Kompromisse einzugehen. Und diese Tatsache wertschätzen alle möglichen Hörer*innen: Rockfans, Pophörer*innen, Hip-Hop-Heads. Eminem sprach sie alle an, begeisterte selbst ein Hip-Hop-fernes Publikum für einen fetten Beat und klassischen Westcoast-Sound wie in Bitch Please 2. Neben Executive Producer Dr. Dre ist Eminem selbst für die musikalische Regie und viele Instrumentals verantwortlich, auch die zweite Single The Way I Am gehört dazu. Diesen und einen weiteren Track hätte es fast nicht gegeben, sie verdanken sich letztendlich dem unerbittlichen Druck seiner Plattenfirma.
I’m not Mr. *NSYNC
Große Erfolgserwartungen lasteten nach seinem Hit-Debüt auf Eminem, das auf Platz zwei der Billboard-Charts stieg. Innerhalb von zwei Monaten wurde das nächste Projekt in schlaflosen Studiosessions durchgepeitscht. Bei Interscope Records nahm man die erste Fassung des neuen Albums allerdings eher unzufrieden auf: Keine eindeutige Leadsingle war für die Musikmanager darauf auszumachen. Angepisst und angespornt zog sich Em zurück und schrieb die trotzige Reaktion The Way I Am, das textlich mit Kritiker*innen, Fans und Label abrechnet: „And no, I don’t owe you a motherfuckin’ thing / I’m not Mr. N’Sync / I’m not what your friends think / I’m not Mr. Friendly, I can be a prick if you tempt me“. Mit diesem Track schrieb er sich derart Frust von der Seele, dass da wohl ein Knoten platzte. Er arbeitete die Hookline für einen weiteren Track aus und schickte sie an Dre, der einen Beat dazu bauen sollte. Daraus entstand die erste Single der LP namens The Real Slim Shady. Em schaffte so doch noch, was viele von ihm wollten: einen Song, der sogar seinen ersten Hit My Name Is in jeder Hinsicht übertraf.
Ist das noch Rap?
The Real Slim Shady und sein grotesk-komödiantisches Musikvideo legten den Grundstein dafür, dass The Marshall Mathers LP auf der ganzen Welt durch die Decke ging und in vielen Ländern zu einem Nummer-eins-Album wurde: Australien, Österreich, Dänemark, Griechenland, Großbritannien, Südafrika, oder natürlich in den Staaten selbst: Diese allumfassende Präsenz machte nicht nur Eminem zum Superstar, sondern leistete auch der Verbreitung von Hip-Hop einen Bärendienst. Dieser Hip-Hop war nun zwar nicht mehr dezidiert schwarz, aber trotz vieler Pop-Flirts noch weitgehend authentisch. Man kann prächtig darüber streiten, ob der Großteil des heutigen Rap-Mainstreams qualitativ an die goldene Ära um das Jahr 2000 herankommt. „Ist das überhaupt noch Rap?“, fragen sich viele Hip-Hop-Fans im Jahr 2020. Falls irgendjemand ein Referenzwerk braucht: Einfach The Marshall Mathers LP auflegen.